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Höhenangst

Titel: Höhenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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wurde sie durch all die anderen heftigen Emotionen überlagert.
    Ich fand heraus, daß Adam sehr gut indisch kochte. Daß ihn Fernsehen langweilte. Daß er einen sehr schnellen Gang hatte. Daß er die wenigen Kleidungsstücke, die er besaß, sehr sorgfältig flickte. Daß er gern Whisky, guten Rotwein und Weizenbier trank und daß er Bohnen, grätigen Fisch und Kartoffelbrei verabscheute. Daß sein Vater noch am Leben war. Daß er keine Romane las. Daß er fast fließend Spanisch und Französisch sprach, dieser Mistkerl. Daß er mit einer Hand einen Knoten machen konnte. Daß er früher unter Klaustrophobie gelitten hatte, bis er einmal gezwungen gewesen war, sechs Tage in einem kleinen Zelt auf einem zwei Fuß breiten Felsvorsprung des Annapurna zu verbringen. Daß sein frostgeschädigter Fuß ihm manchmal noch weh tat. Daß er nicht viel Schlaf brauchte. Daß er Katzen und Raubvögel mochte. Daß seine Hände immer warm waren, egal, wie eisig es draußen auf den Straßen war. Daß er zum letztenmal geweint hatte, als er zwölf war und seine Mutter starb. Daß er es nicht ausstehen konnte, wenn man den Deckel eines Glases nicht wieder zuschraubte oder Schubladen offenstehen ließ. Daß er mindestens zweimal am Tag duschte und sich mehrmals die Woche die Nägel schnitt. Daß er immer Papiertaschentücher dabeihatte. Daß er mich mit einer Hand auf dem Bett festhalten konnte.
    Daß er selten lächelte oder lachte. Jedesmal wenn ich aufwachte, war er neben mir und starrte mich an.
    Ich ließ ihn Fotos von mir machen. Ich ließ zu, daß er mir beim Baden, Pinkeln und Schminken zusah. Ich ließ sogar zu, daß er mich ans Bett fesselte. Bald kam es mir vor, als wäre mein Innerstes nach außen gekehrt worden und meine ganze private innere Landschaft – alles, was einmal mir allein gehört hatte – bis ins kleinste von Adam erforscht worden. Ich glaube, ich war sehr, sehr glücklich, aber wenn das, was ich mit Adam erlebte, Glück war, dann war ich noch nie zuvor glücklich gewesen.

    Am Donnerstag, vier Tage nachdem Adam mich gefragt hatte, ob ich ihn heiraten wolle, und drei Tage nachdem wir auf dem Standesamt gewesen waren, um das Aufgebot zu bestellen, die entsprechenden Formulare zu unterschreiben und die erforderlichen Zahlungen zu leisten, rief mich Clive im Büro an. Ich hatte nichts mehr von ihm gesehen oder gehört, seit wir damals beim Kegeln gewesen waren – an dem Tag, an dem ich Jake verlassen hatte. Sehr höflich und formell fragte er mich, ob Adam und ich zu Gails Geburtstagsparty kommen wollten. Das Fest finde am Freitag, also morgen, ab neun Uhr statt. Für Essen, Trinken und Tanzmusik sei gesorgt.
    Ich zögerte.
    »Wird Jake auch dort sein?«
    »Ja, natürlich.«
    »Und Pauline?«
    »Ja.«
    »Wissen sie, daß du mich einlädst?«
    »Ich hätte dich nicht angerufen, wenn ich nicht vorher mit den beiden gesprochen hätte.«
    Ich holte tief Luft.
    »Dann gib mir mal die Adresse.«
    Ich ging davon aus, daß Adam sich weigern würde, aber er überraschte mich.
    »Natürlich, wenn es dir wichtig ist«, sagte er lässig.
    Ich zog das schokoladenbraune Samtkleid mit den langen Ärmeln, dem tiefen Ausschnitt und dem geschlitzten, fließenden Rock an, das er mir gekauft hatte.
    Es war das erstemal seit Wochen, daß ich mich so richtig schön machte. Mir wurde bewußt, daß ich, seit ich Adam kannte, kaum mehr darauf achtete, was ich trug oder wie ich aussah. Ich hatte abgenommen und war sehr blaß.
    Mein Haar brauchte dringend einen Schnitt, und ich hatte dunkle Ringe unter den Augen. Trotzdem hatte ich, als ich an diesem Abend einen letzten kritischen Blick in den Spiegel warf, das Gefühl, eine neue Art von Schönheit auszustrahlen. Vielleicht lag es aber auch nur daran, daß ich krank war oder verrückt.

    Gails Wohnung lag in einem großen, baufällig aussehenden Gebäude in Finsbury Park. Als wir dort eintrafen, waren alle Fenster beleuchtet, und schon vom Gehsteig aus konnten wir Musik und lachende Stimmen hören. Die Vorhänge waren zurückgezogen, so daß durch die Fenster die Silhouetten der Gäste zu erkennen waren.
    Ich packte Adam am Arm.
    »Glaubst du, es ist eine gute Idee? Vielleicht hätten wir doch nicht herkommen sollen.«
    »Laß uns eine Weile hierbleiben. Dann kannst du mit allen reden, mit denen du reden möchtest, und hinterher verschwinden wir schnell wieder und gehen noch irgendwo essen.«
    Gail öffnete die Tür.
    »Alice!« Sie küßte mich überschwenglich auf beide Wangen, als

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