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Höhenangst

Titel: Höhenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Beifahrerseite hinüber und stieg ein. Adam lief ins Haus und kehrte eine Minute später zurück.
    »Was hast du geholt?«
    »Meine Brieftasche«, antwortete er. »Und das hier.« Er warf die Polaroidkamera auf den Rücksitz.
    O Gott, dachte ich, sagte aber nichts.

    Ich blieb lange genug wach, um mitzubekommen, daß wir London auf der M1 verließen, aber dann schlief ich ein, wie ich es immer tue, wenn ich Beifahrer bin. Irgendwann schreckte ich kurz hoch und stellte fest, daß wir die Autobahn verlassen hatten und durch eine wilde, mit Buschwerk bewachsene Landschaft fuhren.
    »Wo sind wir?« fragte ich.
    »Laß dich überraschen!« antwortete Adam mit einem Lächeln.
    Ich schlief wieder ein. Als ich zum zweitenmal wach wurde, fiel mein Blick auf eine alte angelsächsische Kirche neben der Straße. Ansonsten wies die Landschaft keine besonderen Merkmale auf.
    »Eadmund mit a«, bemerkte ich verschlafen.
    »Er hat den Kopf verloren«, antwortete Adam neben mir.
    »Was?«
    »Er war ein angelsächsischer König. Nachdem die Wikinger ihn gefangengenommen hatten, töteten sie ihn, zerstückelten ihn und verstreuten die Leichenteile in der Gegend. Seine Gefolgsleute konnten ihn zuerst nicht finden, aber dann geschah ein Wunder. Eine Stimme rief
    ›Hier bin ich!‹, bis sie sämtliche Teile entdeckt hatten.«
    »Ich wünschte, Schlüssel könnten das auch. Wie oft habe ich mir schon gewünscht, mein Schlüsselbund würde
    ›Hier bin ich!‹ rufen, so daß ich nicht in all meinen Taschen nach ihm suchen müßte.«
    An einer Weggabelung stand ein aufwendig gearbeitetes, mit einem Adler versehenes Denkmal, das an die Gefallenen der königlichen britischen Luftwaffe erinnerte.
    Wir nahmen die rechte Abzweigung.
    »Wir sind da«, erklärte Adam.
    Er brachte den Wagen am Straßenrand zum Stehen und stellte den Motor ab.
    »Wo?« fragte ich.
    Adam griff nach der Kamera.
    »Komm!« sagte er.
    »Ich hätte meine Wanderstiefel mitnehmen sollen.«
    »Es sind bloß ein paar hundert Meter.«
    Adam nahm meine Hand, und wir gingen einen Feldweg entlang, der von der Straße abzweigte. Nach einer Weile bogen wir vom Weg ab und gingen durch ein kleines Wäldchen und dann einen rutschigen Hang hinauf, der noch mit nassem Herbstlaub bedeckt war. Adam ging schweigend und in Gedanken versunken neben mir her.
    Als er schließlich zu sprechen begann, erschrak ich fast.
    »Vor ein paar Jahren habe ich den K2 bestiegen«, sagte er. Ich nickte und sah ihn an, aber sein Blick war in die Ferne gerichtet. Er schien noch immer in seine eigene Welt versunken zu sein.
    »Viele große Bergsteiger haben das nie versucht, und viele sind bei dem Versuch ums Leben gekommen. Als ich oben stand, war mir verstandesmäßig klar, daß das mit ziemlicher Sicherheit das Größte war, was ich als Bergsteiger je leisten würde, aber ich empfand nichts dabei. Ich blickte mich um, aber …« Er machte eine verächtliche Geste. »Ich stand fünfzehn Minuten dort oben und wartete, bis Kevin Doyle es auch geschafft hatte. Die ganze Zeit über stellte ich Berechnungen an, überprüfte meine Ausrüstung, ging im Kopf unsere Vorräte durch und legte unsere Abstiegsroute fest. Sogar wenn ich den Blick über die Landschaft schweifen ließ, war der Berg für mich nur als Problem vorhanden.«
    »Warum tust du es dann?«
    Er schüttelte ungeduldig den Kopf.
    »Nein, du verstehst nicht, worauf ich hinauswill. Sieh mal!«
    Wir traten gerade aus den Bäumen auf eine Grasfläche hinaus, die fast wie eine Moorlandschaft aussah. »Das ist die Landschaft, die ich liebe, und nicht ein ungezähmtes Stück Berg.« Er legte den Arm um mich. »Ich war schon einmal hier, und ich empfand diese Landschaft damals als eines der schönsten Fleckchen Erde, die ich je gesehen hatte. Wir leben auf einer der am dichtesten besiedelten Inseln der Welt, und trotzdem stehen wir hier auf einem Stück Grasland abseits eines kleinen Waldwegs, weit weg von jeder größeren Straße. Betrachte es durch meine Augen, Alice. Sieh mal dort hinunter! Die Kirche, an der wir vorbeigekommen sind, fügt sich in die Landschaft, als wäre sie dort wie ein Baum aus dem Boden gewachsen.
    Und schau dir die Felder an, die unterhalb der Kirche liegen, aber trotzdem ganz nah wirken: wie eine Platte aus grünen Fluren. Komm und stell dich hierher, neben den Weißdornbusch.«
    Es dauerte eine Weile, bis Adam mich so postiert hatte, wie er sich das vorstellte. Dann blieb er dicht vor mir stehen und blickte sich um, als müßte er

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