Höhenangst
Gruppe fehlte jede Spur.
Daraufhin stieg Adam wieder den Grat hinauf, brachte das gelbe Seil an und führte die zweite Gruppe nach unten.
Ein paar der Leute mußten sofort medizinisch versorgt werden, aber nachdem er sich um sie gekümmert hatte, zog er ein weiteres Mal los, um allein in der Dunkelheit nach der vermißten Gruppe zu suchen. Es war hoffnungslos. Mitten in der Nacht erwachte Klaus und nahm in seinem Delirium an, Adam sei ebenfalls verschwunden, bis er dann später ins Zelt gestürzt kam und vor Erschöpfung zusammenbrach.
Die erste Gruppe wurde am folgenden Tag gefunden.
Den fünf Menschen war ein kleiner, aber tragischer Fehler unterlaufen. Nachdem sich das befestigte Seil gelöst hatte und in den Abgrund geweht worden war, waren sie, irritiert durch die Dunkelheit, das Schneetreiben und das Tosen des Sturms, an der falschen Seite des Gemini Ridge hinuntergestolpert und auf diese Weise hoffnungslos und unwiderruflich von ihrem Weg abgekommen, bis sie schließlich einen ungeschützten Kamm erreichten, der zu beiden Seiten steil abfiel. Die Leichen von Françoise Colet und einem Amerikaner, Alexis Hartounian, wurden nie gefunden. Sie mußten bei dem Versuch, sich auf dem Grat nach oben zurückzukämpfen, in den Abgrund gestürzt sein. Vielleicht hatten sie aber auch vorgehabt, sich zum Lager durchzuschlagen, das sie irrtümlicherweise vor sich vermuteten. Die anderen versuchten, sich in dem nächtlichen Unwetter gegenseitig zu wärmen, und starben einen langsamen Tod. Am folgenden Morgen fand sie ein Suchtrupp von Sherpas. Wie Klaus berichtete, war nur noch einer aus der Gruppe am Leben, ein Amerikaner namens Pete Papworth, der, als sie ihn fanden, ein einziges kleines Wort vor sich hinmurmelte: »Help! Help!«
Hilfe, Hilfe. Immer wieder. Help! Help! Vergebliche Hilferufe, die ungehört verhallt seien, schrieb Klaus mit dem ganzen Schmerz eines Mannes, der die Tragödie verschlafen hatte.
Benommen las ich die letzten Seiten. Ich hatte das Gefühl, kaum Luft zu bekommen, und blieb einfach auf dem Sofa liegen, wo ich stundenlang geschlafen haben muß.
Als ich aufwachte, blieb mir nicht mehr viel Zeit. Ich duschte und schlüpfte in ein Kleid. Dann fuhr ich mit dem Taxi zum Pelican in Holland Park. Zu Fuß wäre ich zwar schneller gewesen, aber in dem Zustand, in dem ich mich befand, hätte ich das Lokal gar nicht gefunden. Ich bezahlte den Fahrer und ging hinein. Es waren nur ein paar Tische besetzt. In einer Ecke saß Adam mit einem Mann und einer Frau, die ich nicht kannte. Ich stürmte schnurstracks auf ihren Tisch zu, und sie blickten überrascht auf.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich zu den anderen beiden.
»Adam, könntest du einen Moment mit nach draußen kommen?«
Er sah mich mißtrauisch an.
»Was ist?«
»Komm einfach mit. Es ist sehr wichtig. Es dauert nur eine Sekunde.«
Er zuckte mit den Schultern und nickte den anderen entschuldigend zu. Ich nahm ihn an der Hand und führte ihn hinaus. Sobald wir außer Sichtweite seiner Freunde waren, drehte ich mich zu ihm um und nahm sein Gesicht in beide Hände, so daß ich ihm direkt in die Augen sehen konnte.
»Ich habe Klaus’ Buch gelesen«, sagte ich. Seine Augen flackerten beunruhigt auf. »Ich liebe dich, Adam. Ich liebe dich so sehr.«
Ich konnte vor lauter Tränen nichts mehr sehen, aber ich spürte seine Arme.
14. KAPITEL
»Die Dame hat schmale Füße, Mr. Tallis.« Er hielt meinen Fuß, als wäre er ein Stück Ton, und drehte ihn in seinen dünnen Händen.
»Ja, achten Sie darauf, daß er um die Knöchel gut sitzt.
Wir wollen doch nicht, daß sie Wasserblasen bekommt.«
Ich war noch nie in so einem Laden gewesen, auch wenn ich schon öfter mal an einem vorbeigekommen war und in seine dämmrigen, teuren Tiefen hineingespäht hatte. Ich probierte keine Schuhe, sondern wurde von einem Schuhmacher vermessen, der mir welche maßanfertigen sollte. Meine Socken – lila und an einigen Stellen schon recht dünn – wirkten in dieser Umgebung äußerst schäbig.
»Und einen hohen Rist.«
»Ja, das ist mir auch schon aufgefallen.« Adam griff nach meinem anderen Fuß und untersuchte ihn. Ich kam mir vor wie ein Pferd beim Beschlagen.
»An welche Art Wanderstiefel haben Sie denn gedacht?«
»Na ja, da ich noch nie …«
»Normale Trekkingschuhe. Ziemlich hoch, damit die Knöchel abgestützt sind. Möglichst leicht«, erklärte Adam in bestimmtem Tonfall.
»Wie die letzten, die ich gemacht habe? Die für –«
»Ja.«
»Für
Weitere Kostenlose Bücher