Höhenangst
klopfte der Form halber kurz an und öffnete sie dann.
Drinnen war es bitterkalt und ziemlich dunkel. Die Diele war ein kühler, quadratischer Raum mit einem schönen Holzboden und einer Großvateruhr in der Ecke. Adam nahm mich am Arm und führte mich in ein Wohnzimmer voller alter Sofas und Armsessel. Der große Kamin auf der anderen Seite des Raums sah aus, als hätte er schon seit vielen Jahren kein Feuer mehr gesehen. Ich zog meinen Mantel fester um mich. Adam nahm seinen Schal ab und wickelte ihn mir um den Hals.
»Wir bleiben nicht lang, mein Liebling«, sagte er.
Die Küche, ein Raum mit kalten Steinfliesen und viel Holz, war ebenfalls leer, obwohl auf dem Küchentisch ein Messer und ein Teller voller Brösel lagen. Das Eßzimmer war einer jener Räume, die nur einmal im Jahr benutzt wurden. Auf dem runden, auf Hochglanz polierten Tisch und der strengen Mahagonianrichte standen unbenutzte Kerzen »Bist du hier aufgewachsen?« fragte ich, weil ich mir nicht vorstellen konnte, daß je Kinder in diesem Haus gespielt hatten. Adam nickte und deutete auf ein Schwarzweißfoto auf dem Kaminsims. Ein Mann in Uniform, eine Frau in einem langen Kleid und ein dunkelhaariger Junge posierten vor dem Haus. Sie wirkten alle sehr ernst und steif. Die Eltern sahen viel älter aus, als ich erwartet hatte.
»Bist das du?« Ich griff nach dem Foto und hielt es ins Licht, um es besser sehen zu können. Er mußte damals etwa neun Jahre alt gewesen sein. Die Hände seiner Mutter ruhten auf seinen aufsässig hochgezogenen Schultern, und er runzelte finster die Stirn. »Du siehst schon genauso aus wie heute, Adam, ich hätte dich überall erkannt. Wie schön deine Mutter war!«
»Ja. Das war sie.«
Im ersten Stock gab es mehrere Schlafzimmer, und in jedem war das Bett ordentlich gemacht, das Kissen aufgeschüttelt. Auf jedem Fensterbrett stand ein Arrangement aus getrockneten Blumen.
»Welches war dein Zimmer?« fragte ich Adam.
»Das hier.«
Ich sah mich um, betrachtete die weißen Wände, die gelbe Tagesdecke aus Velours, den leeren Schrank, das langweilige Landschaftsbild, den kleinen Spiegel.
»Aber du bist hier gar nicht zu spüren«, sagte ich. »Ich sehe in diesem Zimmer überhaupt nichts von dir.« Adam wirkte ungeduldig. »Wann bist du ausgezogen?«
»Du meinst, endgültig? Mit fünfzehn, glaube ich. Aber ich war sowieso nicht viel hier, weil ich schon mit sechs in ein Internat kam.«
»Wo bist du hin, als du fünfzehn warst?«
»Hierhin und dorthin.«
Ich begriff langsam, daß es keine gute Methode war, Adam direkte Fragen zu stellen, wenn man etwas über ihn erfahren wollte.
Als nächstes betraten wir ein Zimmer, von dem er mir erzählte, es sei das seiner Mutter gewesen. An der Wand hing ein Bild von ihr, und neben den getrockneten Blumen lag ein zusammengefaltetes Paar Seidenhandschuhe, das dem Raum eine eigenartige Note verlieh.
»Hat dein Vater sie sehr geliebt?« fragte ich.
Adam sah mich mit einem seltsamen Blick an.
»Nein, ich glaube nicht. Schau, da ist er!« Ich trat zu ihm ans Fenster. Ein sehr alter Mann kam durch den Garten auf das Haus zu. Auf seinem weißen Haar lagen Schneeflocken, und auch seine Schultern waren voller Schnee. Er trug keinen Mantel und war so dünn, daß man fast den Eindruck hatte, durch ihn hindurchsehen zu können, hielt sich aber sehr gerade. Den Stock, den er bei sich hatte, schien er nur zu benutzen, um damit nach den Eichhörnchen zu schlagen, die flink die alten Birken hinaufsausten.
»Wie alt ist dein Vater, Adam?« fragte ich.
»Um die Achtzig. Ich war ein Nachkömmling. Meine jüngste Schwester war sechzehn, als ich auf die Welt kam.«
Adams Vater – Adam sagte mir, ich solle ihn Colonel Tallis nennen – kam mir schrecklich alt vor. Seine Haut war bleich und pergamentartig, seine Hände mit Leberflecken übersät. Er hatte die gleichen auffallend blauen Augen wie Adam, aber bei ihm wirkten sie trüb, wie mit einem Grauschleier überzogen. Seine Hose schlackerte um seinen skelettartigen Körper. Er war nicht besonders überrascht, uns zu sehen.
»Das ist Alice«, stellte mich Adam vor. »Ich werde sie nächsten Freitag heiraten.«
»Guten Tag, Alice«, sagte sein Vater. »Eine Blondine, hm? Sie werden also meinen Sohn heiraten.« Sein Blick wirkte fast ein wenig gehässig. Er wandte sich wieder an Adam. »Na, dann schenk mir mal einen Whisky ein.«
Adam verließ den Raum. Ich wußte nicht so recht, was ich zu dem alten Mann sagen sollte, und er schien
Weitere Kostenlose Bücher