Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Höhenangst

Titel: Höhenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
Vom Netzwerk:
man durfte seine Stimmung nicht unterschätzen. Er war wie eine an den Strand gespülte rostige alte Mine aus dem Zweiten Weltkrieg, die auf den ersten Blick harmlos wirkte, aber durch einen unbedachten Stoß an der falschen Stelle in die Luft gehen konnte.
    Dieser Stoß würde nicht von mir kommen – nicht heute.
    Nacheinander betraten die Leute den Konferenzraum.
    Ich hatte mir bereits einen Platz gesucht, wo ich mit dem Rücken zur Tür saß, so daß ich einen guten Blick aus dem Fenster hatte. Das Büro lag südlich der Themse in einem Labyrinth schmaler Straßen, die nach Gewürzen und deren fernen Herkunftsländern benannt waren. Hinter unseren Büros erstreckte sich ein Grundstück, das immer kurz davorstand, aufgekauft und saniert zu werden. Vorerst aber wurde es als Sammelstelle für recyclingfähige Materialien genutzt. Als Müllhalde. In einer Ecke türmte sich ein riesiger Berg aus Flaschen. An sonnigen Tagen glitzerte er geheimnisvoll, aber selbst an einem schrecklichen Tag wie diesem hatte ich gute Chancen, den Bagger dabei beobachten zu können, wie er die Flaschen zu einem noch höheren Berg auftürmte. Das war interessanter als alles, was im Konferenzraum C passieren würde. Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen. Drei der anwesenden Männer waren eigens zu dieser Besprechung aus dem Labor in Northbridge angereist. Sie schienen sich nicht besonders wohl zu fühlen. Dann gab es da noch Philip Ingalls von oben, meine sogenannte Assistentin Claudia und Mikes Assistentin Fiona. Mehrere Leute fehlten. Mike blickte noch mißmutiger drein und zog hektisch an seinen Ohrläppchen. Ich sah aus dem Fenster. Gut. Der Bagger näherte sich dem Flaschenberg.
    Meine Stimmung besserte sich.
    »Kommt Giovanna nicht?« fragte Mike.
    »Nein«, antwortete einer der Forscher. Er hieß Neil, glaube ich. »Sie hat mich gebeten, sie zu vertreten.«
    Mikes resigniertes Schulterzucken verhieß nichts Gutes.
    Ich setzte mich gerade hin, machte eine aufmerksame Miene und griff voller Optimismus nach meinem Stift. Die Besprechung begann mit Hinweisen auf die letzte Konferenz und anderen monotonen
    Routineangelegenheiten. Ich kritzelte ein wenig auf meinem Block herum und versuchte mich dann an einer Skizze von Neils Gesicht, das mich mit seinen traurigen Augen an einen Bluthund erinnerte. Dann blendete ich mich aus und sah dem Bagger zu, der inzwischen mitten in der Arbeit steckte. Leider konnte man durch die Fenster das Geräusch des brechenden Glases nicht hören, aber ich fand es trotzdem höchst interessant. Nur mit Mühe konzentrierte ich mich wieder auf das Gespräch, als Mike nach den Plänen für den Februar fragte. Neil begann über anovulatorische Blutungen zu sprechen. Absurderweise ärgerte es mich plötzlich, daß ein männlicher Wissenschaftler einem männlichen Manager etwas über eine Technologie erzählte, die für die weibliche Anatomie bestimmt war. Ich holte tief Luft, um etwas zu sagen, überlegte es mir dann aber anders und wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Recyclingzentrum zu. Der Bagger hatte seine Arbeit beendet und war gerade dabei wegzufahren. Ich fragte mich, wie man wohl an einen Job als Baggerfahrer kam.
    »Und was dich betrifft …« Schlagartig wurde ich mir meiner Umgebung bewußt, als wäre ich abrupt aus dem Schlaf gerissen worden. Mike hatte seine Aufmerksamkeit mir zugewandt, und alle verdrehten die Hälse, um ja nichts von dem bevorstehenden Fiasko zu verpassen. »Du mußt das in die Hand nehmen, Alice. In dieser Abteilung liegt einiges im argen.«
    Sollte ich mir die Mühe machen, mit ihm zu diskutieren?
    Nein.
    »Ja, Mike«, flötete ich in süßem Ton, gab ihm aber gleichzeitig durch ein Augenzwinkern zu verstehen, daß ich mich von ihm nicht einschüchtern ließ. Sein Gesicht lief rot an.
    »Und kann irgend jemand dieses verdammte Licht reparieren?!« schrie er.
    Ich blickte auf. Eine der Neonröhren flackerte leicht.
    Sobald man einmal darauf aufmerksam geworden war, hatte man das Gefühl, als würde einem jemand im Gehirn herumkratzen. Kratz, kratz, kratz.
    »Ich mache das«, sagte ich. »Ich meine, ich sorge dafür, daß es gemacht wird.«

    Ich saß an einem Bericht, den Mike Ende des Monats nach Pittsburgh schicken wollte. Mir blieb also noch eine Menge Zeit, so daß ich den Rest des Tages ruhig und ohne allzuviel Arbeit verbringen konnte. Eine wichtige halbe Stunde brauchte ich, um zwei Modekataloge durchzusehen. Ich entschied mich für ein Paar hübsche Stiefeletten,

Weitere Kostenlose Bücher