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Höhenangst

Titel: Höhenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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ihrer Zigarette herum. Ich war müde und hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. Von dem Gespräch auf der anderen Seite des Tisches bekam ich ebenfalls nur Bruchstücke mit, aber allem Anschein nach erzählte Clive Julie gerade von der geheimen Bedeutung des Musters auf der Marlboro-Zigarettenschachtel. Ich fragte mich, ob er betrunken oder verrückt war. Jake war nicht in der Stadt. Er war unterwegs, um eine Baustelle zu inspizieren. Ein besonders schönes, von mehreren Religionen als heilig betrachtetes Fleckchen Erde sollte untertunnelt werden. Ich rechnete nicht damit, daß er es noch ins Pub schaffen würde. Da ich mich schon leicht benebelt fühlte, ließ ich mir mit dem Rest meines Drinks viel Zeit. Die Leute am Tisch gehörten alle zu unserer Clique, einer Gruppe von Leuten, die sich fast alle an der Uni kennengelernt und seitdem nie wieder aus den Augen verloren hatten, engen Kontakt pflegten und viel Zeit miteinander verbrachten. Sie waren eigentlich meine Familie.
    Als ich zu Hause den Schlüssel ins Schloß steckte, öffnete mir Jake die Tür. Er hatte sich bereits umgezogen und trug Jeans und ein kariertes Hemd.
    »Ich dachte, du würdest viel später kommen«, sagte ich.

    »Das Problem hat sich erledigt«, antwortete er. »Ich koche dir gerade was zum Abendessen.«
    Auf dem Tisch standen mehrere kleine Kartons.
    Paprikahuhn. Taramosalata. Pittabrot. Ein Miniaturkuchen. Ein Karton mit Sahne. Eine Flasche Wein. Ein Video. Ich küßte ihn.
    »Eine Mikrowelle, ein Fernseher und du«, sagte ich.
    »Was will man mehr?«
    »Und hinterher werde ich es die ganze Nacht mir dir treiben.«
    »Was, schon wieder? Du Tunnelgräber, du!«

    2. KAPITEL
    Am nächsten Morgen war die U-Bahn voller als sonst. Mir war unter den vielen Schichten, die ich anhatte, ziemlich heiß, und ich versuchte mich abzulenken, indem ich über andere Dinge nachdachte, während der Zug durch die Dunkelheit ratterte. Mein Haar brauchte dringend einen neuen Schnitt. Vielleicht konnte ich für die Mittagspause einen Friseurtermin vereinbaren. Ich ging in Gedanken den Kühlschrank durch, ob für abends genug zu essen im Haus war oder ob wir uns etwas besorgen mußten.
    Vielleicht würden wir ja mal wieder tanzen gehen. Mir fiel ein, daß ich an diesem Morgen vergessen hatte, meine Pille einzunehmen, und das schleunigst nachholen mußte, sobald ich im Büro war. Dieses Versäumnis ließ mich auch an das IUP und die gestrige Besprechung denken, der ich es zu verdanken hatte, daß ich an diesem Morgen noch widerwilliger aufgestanden war als sonst.
    Eine magere junge Frau mit einem dicken Baby quetschte sich durch den Zug. Da ihr niemand einen Platz anbot, blieb sie im Gang stehen, wo man vor lauter Gedränge sowieso nicht umfallen konnte. Das Baby auf ihrer knochigen Hüfte war so warm verpackt, daß man nur sein heißes, mißmutiges Gesicht sehen konnte. Wie zu erwarten, begann es bald zu weinen. Seine heiseren, langgezogenen Schreie ließen seine ohnehin schon geröteten Wangen dunkelrot anlaufen, aber seine Mutter achtete gar nicht darauf. Ihre bleiche Miene wirkte starr, als wäre sie völlig abwesend. Obwohl ihr Baby wie für eine Südpolexpedition angezogen war, trug sie selbst bloß ein dünnes Kleid und darüber einen offenen Anorak. Ich horchte in mich hinein, ob sich in mir so etwas wie ein Mutterinstinkt regte. Negativ. Dann ließ ich meinen Blick über all die korrekt gekleideten Männer und Frauen gleiten. Ich beugte mich zu einem Mann in einem edlen Kaschmirmantel hinunter, bis ich ihm nahe genug war, um seine Pickel zu sehen, und flüsterte dann leise in sein Ohr:
    »Entschuldigen Sie. Könnten Sie dieser Frau Ihren Platz überlassen?« Er sah mich verblüfft und abweisend an.
    »Sie braucht einen Sitzplatz.«
    Er stand auf, und die junge Mutter kam mit schlurfenden Schritten herüber und zwängte sich zwischen zwei Guardians. Das Baby schrie weiter, und sie starrte immer noch geradeaus. Wenigstens konnte sich der Mann jetzt rühmen, eine gute Tat vollbracht zu haben.
    Ich war froh, als ich endlich aussteigen konnte, auch wenn ich mich nicht auf den vor mir liegenden Arbeitstag freute. Sooft ich an meine Arbeit dachte, ergriff ein Gefühl der Lethargie von mir Besitz, als wären all meine Glieder plötzlich zentnerschwer und die Kammern meines Gehirns verstaubt. Die Straßen waren eisig, und mein Atem stieg in Ringen in die Luft. Ich wickelte mir den Schal fester um den Hals. Ich hätte einen Hut aufsetzen sollen. Vielleicht konnte ich

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