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Höhenangst

Titel: Höhenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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sollen. Irgend etwas mußte er sich wieder ins Gedächtnis rufen, etwas, das falsch gelaufen war. Da war ein falscher Ton gewesen.
    Ein Teilchen des Puzzles paßte nicht. Er schloß die Augen. Die Dunkelheit tat gut. Sein Leben war so hektisch gewesen. Die ganze Mühe. Wofür? Nichts. Es mußte ihm einfach wieder einfallen. Sobald es ihm wieder einfiel, war alles andere unwichtig. Wenn bloß das Heulen des Windes aufhören würde. Wenn er bloß denken könnte. Ja, das war es. Es war so blöd, so einfach, aber jetzt erinnerte er sich.
    Er lächelte. Er spürte, wie die Kälte sich in seinem Körper ausbreitete, ihn in der Dunkelheit willkommen hieß.

    Ich saß reglos auf dem harten Stuhl. Mein Hals schmerzte.
    Von dem flackernden Neonlicht wurde mir langsam schwindlig. Ich stützte die Hände auf den Schreibtisch, der uns voneinander trennte, legte die Fingerspitzen leicht aneinander und versuchte, gleichmäßig zu atmen. Wie seltsam, daß das Ganze an einem solchen Ort enden mußte.
    Um uns herum klingelten die Telefone, und die Luft summte von Gesprächen, als wäre sie elektrisch aufgeladen. Irgendwo im Hintergrund waren andere Leute, uniformierte Männer und Frauen, die hektisch vorbeieilten. Hin und wieder streiften uns ihre Blicke, aber sie wirkten nicht neugierig. Warum sollten sie auch? Sie bekamen hier drin so vieles zu sehen, und ich war nur eine ganz normale Frau mit geröteten Wangen und einer Laufmasche in der Strumpfhose. Wer sah mir schon an, wie es mir ging? Meine Füße schmerzten in ihren lächerlichen Stiefeletten. Ich wollte nicht sterben.
    Inspektor Byrne griff nach einem Stift. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und versuchte ihn anzulächeln. Er hatte buschige Augenbrauen und einen geduldigen Blick.
    Am liebsten wäre ich in Tränen ausgebrochen und hätte ihn angefleht, mich zu retten. O bitte! Ich hatte schon so lange nicht mehr richtig geweint. Wenn ich jetzt damit anfing, würde ich dann je wieder aufhören?
    »Erinnern Sie sich, wo wir stehengeblieben sind?« fragte er.
    O ja, ich erinnerte mich. Ich erinnerte mich an alles.

    1. KAPITEL
    »Alice! Alice! Du bist spät dran!«
    Ich hörte ein leises, widerwilliges Grunzen. Erst dann wurde mir bewußt, daß das Geräusch von mir selbst kam.
    Draußen war es kalt und dunkel. Ich kuschelte mich noch tiefer unter die aufgebauschte Bettdecke und kniff die Augen zusammen, um den schwachen Schimmer des Winterlichts nicht sehen zu müssen.
    »Aufstehen, Alice!«
    Jake roch nach Rasierschaum. Seine Krawatte war noch nicht gebunden. Ein neuer Tag. Es sind eher die kleinen Gewohnheiten als die großen Entscheidungen, die zwei Menschen zu einem richtigen Paar machen. Jake und ich kannten einander bis ins trivialste Detail. Ich wußte, daß er seinen Kaffee mit mehr Milch trank als seinen Tee, und er wußte, daß ich bloß einen Tropfen Milch im Tee mochte und meinen Kaffee schwarz trank. Er konnte mit sicherem Griff den harten Knoten lokalisieren, der sich neben meinem linken Schulterblatt bildete, wenn ich einen harten Arbeitstag im Büro hinter mir hatte. Ich tat seinetwegen kein Obst in den Salat und er meinetwegen keinen Käse.
    Was konnte man von einer Beziehung mehr erwarten? Wir waren gerade dabei, uns als Paar einzuspielen.
    Ich hatte vorher noch nie mit einem Mann zusammengelebt – zumindest nicht mit einem, mit dem ich eine Beziehung hatte –, und fand es interessant zu sehen, wie beide Partner im Haushalt bestimmte Rollen übernahmen. Als Ingenieur kannte sich Jake unendlich gut mit all den Drähten und Röhren aus, die hinter unseren Wänden und unter unseren Böden verliefen. Ich sagte einmal zu ihm, daß das einzige, was ihn an unserer Wohnung störe, die Tatsache sei, daß er sie nicht eigenhändig auf der grünen Wiese gebaut habe, und er faßte diese Bemerkung nicht als Beleidigung auf. Ich hatte Biochemie studiert, was bedeutete, daß ich fürs Bettenmachen zuständig war und den Mülleimer in der Küche ausleerte. Jake reparierte den Staubsauger, aber ich benutzte ihn. Ich putzte auch das Bad, es sei denn, Jake hatte sich vorher dort rasiert. Da zog ich die Grenze.
    Das Seltsame an unserer Aufteilung war, daß Jake die ganze Bügelwäsche erledigte. Er behauptete, heutzutage wüßten die Leute gar nicht mehr, wie Hemden richtig gebügelt würden. Ich hielt das für völlig bescheuert und hätte mit Sicherheit beleidigt reagiert, wenn es nicht so schwer wäre, beleidigt zu sein, wenn man mit einem Drink auf der Couch liegt und

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