Höhenangst
sich einen Cappuccino bestellt und verschlang gerade einen großen Schokoladenmuffin. Sie trug eine schwarze Wollhose, einen zotteligen auberginenfarbenen Pulli, knöchelhohe Stiefel und kein Make-up. Ihr silbernes Haar war zu einem lockeren Knoten geschlungen. Sie wirkte ziemlich normal und – als sie mich anlächelte – sogar sehr nett. Nicht so kaputt wie beim letztenmal. Zögernd erwiderte ich ihr Lächeln. Ich wollte sie nicht sympathisch finden.
»Probleme?« fragte sie in freundlichem Ton, als ich mich ihr gegenüber niederließ.
»Möchten Sie noch einen Kaffee?« fragte ich zurück.
»Nein, danke. Aber gegen einen zweiten Muffin hätte ich nichts einzuwenden – ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen.«
Ich bestellte für mich einen Cappuccino und für sie einen weiteren Muffin. Dann starrte ich sie über den Rand meiner Tasse an und wußte nicht, wo ich anfangen sollte.
Lily störte offensichtlich weder mein Schweigen noch mein Unbehagen. Hungrig verschlang sie auch den zweiten Muffin. Ihr Kinn war voller Schokolade. Sie war ein bißchen wie ein kleines Kind, dachte ich.
»Wir haben unser Gespräch letztesmal nicht zu Ende geführt«, begann ich unentschlossen.
»Was wollen Sie wissen?« fragte sie in scharfem Ton.
»Mrs. Tallis«, fügte sie hinzu.
Erschrocken blickte ich auf.
»Ich bin nicht Mrs. Tallis. Warum nennen Sie mich so?«
»Meine Güte, sind Sie aber empfindlich!«
Ich hakte nicht weiter nach. Schließlich hatte es seit Tagen keine Anrufe oder Briefe mehr gegeben. Nicht, seit ich Jake zur Rede gestellt hatte.
»Hat Adam Ihnen gegenüber jemals Gewalt angewendet?«
Sie lachte laut auf.
»Ich meine, wirkliche Gewalt«, fügte ich hinzu.
Sie wischte sich den Mund ab. Ihr war anzusehen, daß sie die Situation genoß.
»Ich meine, hat er je etwas gegen Ihren Willen getan?«
»Was soll das heißen? Woher soll ich das so genau wissen? So war das zwischen uns nicht. Sie wissen doch, wie er ist.« Sie lächelte mich an. »Wie er wohl reagieren würde, wenn er wüßte, daß Sie sich heimlich mit mir treffen? Daß Sie in seiner Vergangenheit herumschnüffeln?« Wieder ließ sie ihr abgehacktes, eigenartiges Kichern hören.
»Ich weiß nicht, was er sagen würde.«
»Die Frage ist nicht, was er sagen würde. Was würde er tun?«
Ich gab ihr keine Antwort.
»Ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken.« Dann schüttelte sie sich plötzlich heftig und beugte sich zu mir herüber, bis ihr Gesicht ganz nah vor meinem war. An einem ihrer makellos weißen Zähne klebte ein Stückchen Schokolade. »Andererseits möchte ich es natürlich doch.«
Sie schloß die Augen, und ich hatte das unangenehme Gefühl, daß sie sich gerade an einen sadomasochistischen Akt mit Adam erinnerte.
»Ich muß jetzt gehen«, erklärte ich.
»Darf ich Ihnen einen Rat geben?«
»Nein«, antwortete ich etwas zu schnell.
»Versuchen Sie nicht, sich ihm in den Weg zu stellen oder ihn zu ändern. Es wird nicht funktionieren. Tun Sie, was er will.«
Sie stand auf und ging. Ich bezahlte.
20. KAPITEL
Ich ging schnurstracks auf Klaus zu und umarmte ihn. Er schlang seine Arme um mich.
»Herzlichen Glückwunsch!« sagte ich.
»Eine tolle Party, nicht wahr?« Er strahlte mich an. Dann bekam sein Lächeln eine ironische Note. »So sind diese Leute auf dem Berg wenigstens nicht ganz umsonst gestorben. Durch mein Buch ist bei der ganzen Sache doch noch etwas Gutes herausgekommen. Es soll keiner sagen, daß ich es nicht geschafft habe, aus dem Unglück anderer Leute Profit zu schlagen.«
»Dafür sind andere Leute da, nehme ich an«, antwortete ich, und wir lösten uns voneinander.
»Wo ist dein Mann, der Held?« fragte Klaus und sah sich nach Adam um.
»Der versteckt sich irgendwo in der Menge und wehrt seine Bewunderer ab. Ist sonst noch jemand von der Expedition hier?«
Klaus blickte sich im Raum um. Die Party, mit der das Erscheinen seines Buchs gefeiert wurde, fand in der Bibliothek der Alpinistengesellschaft in South Kensington statt. Es handelte sich um einen höhlenartigen Raum, an dessen Wänden natürlich Regale voller ledergebundener Bücher standen, aber es waren auch alte, abgetragen aussehende Wanderstiefel in Glasvitrinen ausgestellt, und an den Wänden hingen Eispickel, die dort wie Trophäen wirkten, und Fotos von steifen, in Tweed gekleideten Männern, und – wie hätte es anders sein können –
Aufnahmen von Bergen, unzähligen Bergen.
»Irgendwo muß Greg stecken.«
Ich sah ihn
Weitere Kostenlose Bücher