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Höhenangst

Titel: Höhenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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erstaunt an.
    »Greg? Wo ist er?«
    »Da drüben in der Ecke. Geh ruhig hin und stell dich ihm vor.
    Er unterhält sich gerade mit dem alten Lord Montrose, einem Mann aus den frühen Tagen der
    Himalajaexpeditionen, als sie es noch nicht für nötig hielten, ihre Träger mit Steigeisen auszurüsten.«
    Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge. In einer Ecke entdeckte ich Deborah. Überall im Raum standen große, unerhört gesund und sportlich aussehende Frauen herum. Ich konnte nicht anders, als mir vorzustellen, mit welchen von ihnen Adam geschlafen hatte. Wie dumm von mir. Wirklich dumm. Greg beugte sich gerade zu Lord Montrose und schrie ihm etwas ins Ohr, als ich auf die beiden zutrat. Ich stellte mich einfach neben sie, bis Greg mich mißtrauisch musterte. Vielleicht hielt er mich für eine Reporterin. Greg sah genauso aus, wie ich mir einen Kletterer vorgestellt hatte, bevor ich Männer wie Adam und Klaus kennenlernte. Greg war nicht so groß wie sie.
    Er hatte einen unglaublich dichten Bart, fast wie der Mann in dem Edward-Lear-Limerick, der zwei Lerchen und einen Zaunkönig in seinem Bart fand. Sein Haar war lang und ungepflegt. Er konnte die Vierzig noch nicht überschritten haben, aber in seine Stirn und rund um die Augen hatten sich bereits feine Furchen eingegraben. Lord Montrose sah mich an und wich dann plötzlich in die Menge zurück, als wäre ich ein Magnet, der ihn abstieß.
    »Mein Name ist Alice Loudon«, stellte ich mich Greg vor.
    »Ich habe vor kurzem Adam Tallis geheiratet.«
    »Oh«, sagte er, als hätte er schon davon gehört.
    »Herzlichen Glückwunsch!«

    Einen Moment lang schwiegen wir beide. Greg wandte sich wieder dem Foto neben uns an der Wand zu.
    »Sehen Sie«, sagte er, »bei einer der ersten Expeditionen auf diesen Berg trat ein viktorianischer Vikar einen Schritt zurück, um die Aussicht zu bewundern, und riß vier seiner Kollegen mit sich in den Abgrund. Sie landeten zwischen ihren eigenen Zelten, die leider dreitausend Meter tiefer standen.« Er ging zum nächsten Foto. »Der K2. Schön, nicht? Knapp fünfzig Menschen sind auf ihm ums Leben gekommen.«
    »Wo ist der K eins ?«
    Greg lachte.
    »Er existiert nicht mehr. 1856 stieg ein britischer Leutnant, der an einem trigonometrischen Vermessungsprojekt arbeitete, auf einen Berg und sah im zweihundert Kilometer entfernten Karakorumgebiet zwei Gipfel, die er K1 und K2 nannte. Später stellte sich heraus, daß der K1 bereits einen Namen hatte: Masherbrum. Aber K2 blieb.«
    »Sie haben ihn bestiegen«, bemerkte ich. Greg gab mir keine Antwort. Ich wußte, was ich ihm zu sagen hatte. Es sprudelte alles auf einmal aus mir heraus: »Haben Sie heute abend schon mit Adam gesprochen? Sie müssen unbedingt mit ihm reden! Er fühlt sich wegen der Dinge, die in den Zeitungen über den Chungawat geschrieben worden sind, sehr schlecht. Darf ich Sie gleich zu ihm hinüberbegleiten? Sie würden auch mir damit einen Gefallen tun, indem Sie ihn vor all diesen hinreißenden, ihn anhimmelnden Frauen retten.«
    Zu meinem Leidwesen sah mich Greg nicht einmal an, sondern ließ den Blick durch den Raum schweifen, wie es Leute auf Partys gern tun, wenn sie einem nur mit halbem Ohr zuhören und währenddessen nach einem interessanteren Gesprächspartner Ausschau halten. Er wußte bestimmt, daß ich keine Bergsteigerin war, so daß ihn das Gespräch mit mir sicher langweilte. Ich fühlte mich plötzlich sehr unwohl.
    »Sie sagen, er fühlt sich schlecht?« fragte Greg leise. Er sah mich noch immer nicht an. »Warum denn?«
    Wieso stand ich überhaupt hier und redete mit ihm? Ich holte tief Luft. »Weil die Ereignisse auf eine Art dargestellt worden sind, die nichts damit zu tun haben, wie es damals auf dem Berg wirklich war, als das Unwetter tobte und all die anderen Probleme auftauchten.«
    Nun drehte sich Greg doch zu mir um. Er gestattete sich ein müdes Lächeln. Als er zu einer Antwort ansetzte, war deutlich zu spüren, wie sehr ihn das Reden anstrengte. Als wäre sein Schmerz noch immer ganz frisch.
    »Ich glaube«, sagte er langsam, »daß derjenige, der eine Expedition leitet, auch die Verantwortung dafür übernehmen muß.«
    »Es war kein Sonntagsausflug«, sagte ich. »Alle Teilnehmer wußten, auf was für ein gefährliches Abenteuer sie sich einließen. Man kann bei einer solchen Expedition keine Schönwettergarantie geben, als wäre es eine Pauschalreise auf eine sonnige Insel.«
    Die Falten in seinem Gesicht verzogen sich zu einem Lächeln.

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