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Höhenangst

Titel: Höhenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Es war, als hätte ihm die lange Zeit, die er in der ungefilterten Sonne und sauerstoffarmen Luft des Himalaja verbracht hatte, die Aura eines alten buddhistischen Mönchs verliehen. Inmitten dieses ungepflegten, sonnenverbrannten Gesichts leuchteten die schönen, klaren blauen Augen eines Babys. Es kam mir vor, als hätte er die gesamte Last der vergangenen Ereignisse auf seine Schultern geladen. Er war mir ungeheuer sympathisch.

    »Ja, Alice«, antwortete er. »Da haben Sie recht.«
    Dabei klang er, als würde er das nicht als eine Entlastung betrachten, sondern eher als einen weiteren Beweis für sein mangelndes Urteilsvermögen.
    »Ich wünschte, Sie würden mit Adam darüber reden«, sagte ich in verzweifeltem Ton.
    »Warum sollte ich mit ihm reden, Alice? Was könnte er mir sagen?«
    Ich überlegte einen Moment, versuchte, meine Gedanken zu ordnen.
    »Er könnte Ihnen sagen«, antwortete ich ihm schließlich,
    »daß das dort oben auf dem Berg eine völlig andere Welt ist und es deshalb falsch ist, Dinge, die in einer Höhe von über achttausend Metern passiert sind, unter moralischen Gesichtspunkten zu betrachten.«
    Greg schüttelte den Kopf.
    »Das Problem ist«, sagte er und wirkte dabei fast ein wenig konfus, »daß ich das nicht so sehe. Ich weiß, daß
    …« Er hielt einen Moment inne. »Ich weiß, Adam ist der Meinung, daß das auf dem Berg eine andere Welt ist, eine Welt, die sich mit nichts anderem vergleichen läßt. Aber ich bin der Meinung, daß man menschliches Verhalten auf einem Berggipfel ebenso unter moralischen Gesichtspunkten bewerten kann wie an anderen Orten.
    Das einzige Problem ist, es richtig zu bewerten.«
    »Wie meinen Sie das?«
    Seufzend blickte er sich um, um festzustellen, ob jemand unser Gespräch belauschte; aber niemand achtete auf uns.
    Er nahm einen Schluck von seinem Drink, dann noch einen. Ich trank Weißwein, er Whisky.
    »Muß ich mich wirklich für all das noch einmal bestrafen? Vielleicht war es unverantwortlich von mir, relativ unerfahrene Bergsteiger mit auf den Chungawat zu nehmen. Aber ich war der Meinung, alle nötigen Vorkehrungen getroffen zu haben.«
    Er sah mich scharf an. Sein Blick hatte jetzt etwas Stählernes.
    »Vielleicht bin ich immer noch dieser Meinung. Damals wurde ich auf dem Berg krank, richtig krank, und die anderen mußten mich fast tragen, als sie mich ins Camp hinunterbrachten. Es war ein heftiges Unwetter, eines der schlimmsten, die ich je im Mai erlebt habe. Trotzdem war ich der Meinung, mit den befestigten Seilen und der zusätzlichen Hilfe durch die Träger und die professionellen Bergführer ein narrensicheres System entwickelt zu haben.« Wir sahen uns an, und sein Gesicht entspannte sich langsam, bis er nur noch sehr traurig wirkte. »Trotzdem – werden Sie oder andere Leute sagen
    – sind dabei fünf Leute ums Leben gekommen. In Anbetracht dieser Tatsache scheint es mir … nun ja, unangemessen, lautstark zu protestieren, wenn mir vorgeworfen wird, ein Seil, eine Befestigung oder ein Pfosten hätten nachgegeben, weil ich mit meinen Gedanken anderswo gewesen sei.« Er zuckte leicht mit den Schultern.
    »Tut mir leid«, sagte ich. »Mit diesen technischen Dingen kenne ich mich nicht aus.«
    »Nein«, antwortete Greg. »Damit kennen sich die meisten Leute nicht aus.«
    »Aber ich kenne mich mit Gefühlen aus. Ich kann mir vorstellen, wie lange es dauert, bis man so etwas verarbeitet hat. Ich habe Klaus’ Buch gelesen. Er fühlt sich schuldig, weil er dort oben so machtlos war. Und Adam. Es quält ihn immer noch, daß es ihm nicht gelungen ist, seine Freundin zu retten, Françoise.«

    »Seine Exfreundin«, korrigierte mich Greg kühl. Meine Worte schienen ihn nicht zu trösten. In dem Moment trat eine junge Frau auf uns zu.
    »Hallo«, sagte sie fröhlich. »Ich bin Kate. Ich arbeite in dem Verlag, der Klaus’ Buch herausgebracht hat.«
    Greg und ich sahen uns an. Plötzlich waren wir Verbündete.
    »Mein Name ist Alice«, sagte ich.
    »Ich bin Greg.«
    Das Gesicht der Frau hellte sich auf, weil ihr sein Name bekannt vorkam.
    »Oh, Sie waren …«
    Dann schwieg sie verwirrt und wurde rot.

    »Es war schrecklich peinlich«, berichtete ich. »Keiner von uns sagte etwas. Greg war offenbar nicht in der Lage, ihren Satz zu Ende zu sprechen und sich als derjenige zu outen, der für das ganze Desaster die Verantwortung trug, und ich fand, daß es nicht meine Aufgabe war, ihr aus der Patsche zu helfen. Die peinliche Pause wurde immer länger,

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