Höhenangst
stark verkratzt war, enthielt lauter kleine Hefte, die sich bei näherem Hinsehen als Schülerzeitungen und Berichtshefte entpuppten. Ein Teil stammte aus Adams Zeit in Eton.
Aufs Geratewohl schlug ich einen Bericht von 1976 auf.
Da mußte Adam zwölf gewesen sein. Es war das Jahr, in dem seine Mutter starb. Mathematik:
»Wenn Adam seine beachtlichen Fähigkeiten darauf verwenden würde, den Stoff zu lernen, statt den Unterricht zu stören«, stand da in sauberer blauer Schrägschrift,
»dann wäre er ein guter Schüler. So aber …« Ich klappte das Heft zu. Das war kein Herumstöbern mehr, sondern grenzte schon an Schnüffelei.
Ich wanderte in die andere Ecke des Raums. Ich hätte so gerne Fotos gefunden. Statt dessen entdeckte ich in einer kleinen Kiste, die zweimal mit einem Gummiband umwickelt war, damit sie nicht aufging, einen Stapel Briefe. Aus irgendeinem Grund dachte ich zuerst, es handle sich um Briefe seiner Mutter. Vielleicht, weil ich nach Spuren von ihr suchte und mir irgend etwas an der Handschrift verriet, daß die Briefe von einer Frau stammten. Aber als ich das oberste Bündel in die Hand nahm und durchblätterte, wurde mir sofort klar, daß ich es mit den unterschiedlichen Schriften verschiedener Frauen zu tun hatte. Ich warf einen Blick auf den obersten Brief, der mit blauem Kugelschreiber verfaßt war, und schnappte nach Luft.
»Liebster, liebster Adam«, begann er. Der Brief war von Lily. Ein Rest von Anstand hinderte mich am Weiterlesen.
Ich legte das Bündel zurück in die Kiste, nahm es aber gleich wieder heraus. Obwohl ich die Briefe nicht las, stachen mir ein paar Formulierungen in die Augen, die ich nie vergessen würde. Eigentlich wollte ich bloß nachsehen, von wem die Briefe stammten. Ich redete mir ein, daß ich wie eine Archäologin die einzelnen Schichten von Adams Geschichte erforschte, indem ich mich durch all die verschiedenen Phasen grub, die ich ohnehin schon kannte.
Zuerst kamen die kurzen, zusammengestückelten Briefe von Lily. Dann folgten die von Françoise, die mit schwarzer Tinte geschrieben waren und die typische geschwungene Eleganz einer französischen Handschrift aufwiesen. Die meisten davon waren ziemlich lang.
Obwohl sie nicht so leidenschaftlich klangen wie die von Lily, ließ mich ihre Vertrautheit zusammenzucken. Sie schrieb ein sehr anschauliches Englisch, das trotz gelegentlicher kleiner Fehler etwas Bezauberndes hatte.
Nach Françoise folgte ein einzelner Brief von einer hingerissenen Bobby, anschließend einer von einer Frau, die mit T. unterschrieben hatte, dann ein paar Postkarten von Lisa. Lisa hatte eine Vorliebe für Ausrufezeichen und Unterstreichungen.
Nach Lisa – also aus der Zeit vor Lisa – kamen mehrere Briefe von einer Frau, von der ich noch nie etwas gehört hatte. Mit zusammengekniffenen Augen starrte ich auf die Unterschrift. Adele. Ich ließ mich auf die Fersen sinken und lauschte. Alles war ruhig. Das einzige, was ich hören konnte, war das Geräusch des Windes in den lockeren Dachziegeln über mir. Adam war offenbar noch immer damit beschäftigt, seine Sachen durchzusehen. Ich zählte Adeles Briefe. Es waren dreizehn, die meisten davon ziemlich kurz. Danach folgten sechs von Penny. Ich hatte die Frau zwischen Lisa und Penny gefunden, besser gesagt zwischen Penny und Lisa. Adele. Ich begann zu lesen, wobei ich mit dem untersten Brief anfing, weil ich davon ausging, daß sie den als ersten geschrieben hatte.
Die ersten sieben oder acht Briefe waren kurz und prägnant: Adele teilte Adam jeweils mit, wann und wo sie sich treffen konnten, und bat ihn um Vorsicht. Adele war verheiratet. Er bewahrte ihr Geheimnis selbst jetzt noch.
Die nächsten Briefe waren länger und klangen gequälter.
Adele hatte offensichtlich ein schlechtes Gewissen gegenüber ihrem Ehemann, den sie als »vertrauensvollen Tom« bezeichnete. Immer wieder bat sie Adam, es ihr doch nicht so schwerzumachen. Der letzte Brief war ein Abschiedsbrief. Sie schrieb, daß sie Tom nicht länger betrügen könne. Gleichzeitig erklärte sie Adam, daß sie ihn liebe und daß er gar nicht wisse, wieviel er ihr bedeutet habe. Sie schrieb, er sei der wundervollste Liebhaber, den sie je gehabt hatte. Aber sie könne Tom nicht verlassen. Er brauche sie, während das bei Adam offensichtlich nicht der Fall sei. Hatte sie ihn um irgend etwas gebeten?
Ich ließ die dreizehn Briefe in meinen Schoß sinken.
Demnach hatte Adele Adam wegen ihres Mannes verlassen. Vielleicht war er
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