Höhepunkte
drehte er sich um und schrie etwas herüber zu ihr: »Schlampe! Hure!« Sie weinte, und Nestor stand an der Ecke und hatte keine Lust mehr, seinen Spaziergang fortzusetzen. Er wollte an ihrer Seite bleiben, und obwohl sie einander nicht viel zu sagen hatten, blieben sie nebeneinander stehen, schweigend.
Dann bot er ihr an, sie in das Café einzuladen. »Danach geht’s Ihnen gleich besser«, sagte er.
Sie nur anzusehen, machte Nestor schwach: Sie war schöner als das Meer, als das Morgenlicht, als ein Feld voll wilder Blumen, und ihr ganzer Körper, aufgeregt und verschwitzt von der Anstrengung, verströmte einen weiblichen Duft, der ihm in die Nüstern stieg, ihm in den Körper sickerte wie Quecksilber, sich ihm in den Magen bohrte wie Amors frecher Pfeil. Er war so schüchtern, daß er sie nicht länger ansehen konnte, und das gefiel ihr, weil die Männer sie sonst immer anstarrten.
»Ich heiße Maria«, sagte sie zu ihm.
»Und ich Nestor«, sagte er leise zu ihr.
Sie war zweiundzwanzig Jahre alt und aus ihrem kleinen pueblo am Meer nach Havanna gegangen, wo sie die vergangenen paar Jahre gelebt und als Tänzerin in verschiedenen Nachtclubs gearbeitet hatte. Es überraschte ihn nicht zu hören, daß sie Tänzerin war: Sie hatte einen schönen Körper mit kräftigen, muskulösen aber wohlgeformten Beinen. Sie war eine mulata- Schönheit mit den hohen Backenknochen der Starlets aus den vierziger Jahren, ein schmollmundiges, verführerisches Double von Rita Hayworth. Und der Mann, mit dem sie sich gestritten hatte?
»Jemand, der einmal gut zu mir war.«
Er verbrachte den Abend mit ihr in dem Café, paella essend und Wein trinkend, und erzählte ihr alles aus seinem kurzen Leben, die Krankheiten seiner Kindheit, sein Gefühl, ein unwürdiger Mensch zu sein, seine Ängste, daß er nie ein richtiger Macho in diesem Königreich der Machos würde sein können. Ihr gequälter Zustand und ihre pulsierende Verletzlichkeit gingen beredt auf seinen Schmerz ein. Jede seiner Geschichten heftete sich an Maria, seine neue Vertraute, die einzige Frau, mit der er je so geredet hatte.
An diesem Abend, und noch vielen anderen, war sie höflich, dankbar und liebevoll. An ihrer Tür verbeugte er sich und wandte sich ab. Sie sah so gut aus, daß er nicht einmal im Traum daran gedacht hätte, er könnte eine Chance bei ihr haben. Aber dann zog sie ihn an sich, und sie küßten sich. Sie schloß in einer Art von Mitgefühl die Augen, ihre Körper drückten sich aneinander, ihre Hand an seinem Hinterkopf. Wie weich und warm ihre Haut unter dem Kleid war. Wie dick ihre Zunge... »Warum gehen wir morgen nicht in den Luna-Park?« sagte sie zu ihm. »Kannst du am Nachmittag kommen?«
Es war sein freier Tag.
»Ja.«
»Dann ruf zu dem Fenster dort hinauf.« Und sie zeigte auf ein Fenster mit geschlossenen Läden im zweiten Stock, bei einem Balkon, auf dem ein Laken und ein paar Kleider hingen.
In dieser Nacht ging er mit stolzgeschwellter Brust und einer pinga, die warm und angeschwollen in seiner Hose lag, durch die Straßen heim. Er ging noch Stunden in seinem Viertel umher und kletterte schließlich die Treppen zu dem solar hinauf, das er mit seinem älteren Bruder Cesar teilte. Er traf ihn an, wie er sich gerade ein paar Koteletts auf dem kleinen Herd briet, den sie dort hatten. Er war in Unterhemd und Boxershorts und sah trübe aus. Es ging ihm schlecht, seit er aus der Wohnung ausgezogen war, die er mit Frau und Tochter gehabt hatte. Außerdem trank er; auf dem Fensterbrett stand eine Flasche Tres-Medallas-Rum. Cesar wirkte angeschlagen.
»Was ist denn mit dir passiert?«
»Ich hab jemanden kennengelernt. Ein Mädchen. Sie heißt Maria.«
Cesar nickte, klopfte seinem Bruder auf den Rücken und hoffte, daß diese Frau Nestors düstere Anwandlungen vertreiben würde.
Und Nestor setzte sich zu seinem älteren Bruder an den Tisch, das Blut pulste ihm in den Adern, er war voller Leben und verschlang noch ein Schweinskotelett, obwohl er doch erst vor ein paar Stunden reichlich gegessen hatte. Laut schmatzend wie ein ausgehungerter kleiner Hund. Lebensgeräusche, Verdauungsgeräusche, in seinen Augen ein Ausdruck von Glück und Hoffnung. Obwohl er in dieser Nacht nicht schlafen konnte, w ar es eine Schlaflosigkeit vor Freude, die seine Lebensgeister weckte, so daß er Lust hatte, sich aus dem Fenster zu beugen und in die Welt hinauszuschreien. Statt dessen lag er wach im Bett, zupfte leise seine Gitarre, einen e-Moll-Akkord, seine
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