Höhlenangst
nickte. »Im Müll. Mama hatte den Frühjahrsputz gemacht und aufgeräumt und Sachen rausgeschmissen. In der Schule haben wir gerade die Schreibschrift durchgenommen, und ich hatte ganz schön Schwierigkeiten, ihn zu lesen, aber ich habe es geschafft. Ganz alleine!«
»Du bist ein ausgesprochen kluger Junge, Gerrit.«
Offenbar hatte er schon Schriftliches gesammelt, bevor die Zeitungen zur einzigen Quelle von missverständlichen Informationen aus der Erwachsenenwelt wurden, in der niemand sich veranlasst sah, dem genügsam schweigenden Jungen irgendetwas zu erklären. Wenn er älter war, würde er verstehen, dass Sibylle in jenem Frühling, da sie beim Großreinemachen Achims Liebes- und Mordkomplottbriefe aus dem Haus und ihrer Seele warf, eine langjährige Liebesaffäre beendet hatte, um in den Kletterparks der Schwäbischen Alb mit Hark einen Neuanfang zu unternehmen. Alles hätte gut werden können.
Wenn aber stimmte, was Eva erzählt hatte, dann glaubte Hark insgeheim, dass Sibylle im Todsburger Schacht gewaltsam die Ehe mit ihm hatte beenden wollen. Mit der Tatsache, dass Gerrit ihn, den Vater, für einen Versager hielt, der die Mutter nicht hatte retten können, konnte er leben, aber nicht damit, dass Gerrit seine Mutter für eine Mörderin hielt. Doch tatsächlich lebte Gerrit seit gut drei Jahren in der heimlichen Überzeugung, dass Sibylle ihn an diesen A hatte verkaufen wollen, damit er von Ölscheichs adoptiert wurde.
»Aber du bist fast ein bisschen zu klug für diese Welt, Gerrit«, philosophierte Richard.
Auf Gerrits Lippen erschien ein halbes Lächeln.
»Kann natürlich sein, dass du klüger bist als ich, Gerrit, aber ich lese diesen Brief anders als du. Ich glaube, da hat jemand deiner Mutter geschrieben, dass er sie lieb hat und mit ihr leben will, ohne deinen Vater, und vielleicht sogar ohne dich. Er hat ihr vorgeschlagen, dass du bei deinem Vater und Oma und Opa bleibst. Doch deine Mutter war damit nicht einverstanden. Sonst hätte sie ja diesen Brief nicht weggeworfen. Was meinst du? Könnte es nicht auch so gewesen sein?«
Gerrit lutschte an seiner Oberlippe. »Aber dann …« Der Junge schüttelte den Kopf.
Richard sah plötzlich ziemlich ernst aus. »Was dann, Gerrit?«
»Dann … dann … Warum ist Papa dann weggegangen, wenn er doch mein Papa ist?«
Gefiederrascheln schreckte uns alle auf. Graf Huckebein landete auf dem Tisch. Gerrits Hefte und Papier schossen unter seinen Krallenfußen in alle Richtungen weg. Der Rabe purzelte auf seinen Schnabel und flatterte verlegen.
»Du lernst es auch nie!«, sagte Gerrit.
Der Graf wollte es gar nicht lernen. Die oberste Zeitschrift auf einem Stapel von Kosmosheften war ein ideales Surfbrett, um über den Tisch zu schlittern und das hölzerne Modellflugzeug, Tannenzapfen, den Eichelhäherflügel und die Leimflasche auf den Boden zu fegen.
Gerrit haschte nach den Gegenständen.
Währenddessen schnappte sich der Rabe den sperrig aufgefalteten Brief, riss ihn von der Klebestelle, breitete die Schwingen aus, flog auf und segelte durchs offene Fenster hinaus. Im Nu wurde er zu einem schwarzen Punkt im weiten Tal.
Gerrit war ans Fenster gesprungen. »Huckebein, komm zurück. Das gehört mir!«
Ich war spontan geneigt, den Raben für einen verzauberten tibetanischen Mönch zu halten, der zu Lebzeiten unreine Gedanken gehegt hatte – Neid auf das, was anderen gehörte, zum Beispiel – und darum auf der Leiter der Reinkarnation zurückgestuft und an diesen Platz gesetzt worden war, um kraft seiner Schwäche und zur Reinigung einer jugendlichen Seele zu rauben, was Gerrit ein Leben lang belasten musste, je nachdem, wie er im Laufe der Jahre diesen Brief deuten lernte.
Und vor einem fliegenden tibetanischen Mönch brauchte ich keine Angst zu haben, wie ich außerdem feststellte. Kein einziges Härchen hatte sich mir bei der Flatterorgie gestellt. Vermutlich hatte sich in mir inzwischen die Erkenntnis gesetzt, dass Janette mich immer nur für eine kleine Qualle mit unkeuschen Gedanken gehalten hatte, auf die ihr Wellensittich scheißen durfte.
Gerrit kam zum Tisch zurück, klappte das schreckliche Poesiealbum zu und steckte es in eine Schreibtischschublade.
Wenn Hark sich jemals für die Gedankenwelt seines schweigsamen Sohnes interessiert und in dessen Schreibtisch geblickt hatte, dann kannte er dieses Album und den Brief. Dann hatte er spätestens nach Sibylles Tod gewusst, dass sie einen Geliebten gehabt hatte, der mit A unterschrieb.
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