Höhlenangst
dem Foto.«
Richard runzelte die Stirn.
»Ein Versehen!«, beeilte ich mich zu erklären. »Und die Presse ist manchmal etwas vorschnell, das wissen Sie doch.«
»Erlauben Sie mir, mein tief empfundenes Beileid auszudrücken«, sagte Richard. »Und verzeihen Sie. Wir wollten wirklich nicht aufdringlich sein. Es ist sicherlich alles sehr schwer für Sie.«
»Na gut, kommen Sie rein. Aber viel kann ich Ihnen nicht sagen.«
Sie winkte uns durch den Flur. Die drei Orgelpfeifen betäubten sich vor dem Fernseher im Nebenzimmer, dessen Schiebetür offen stand. Eva schob sie zu. »Was darf ich Ihnen anbieten?« Sie nahm den Aschenbecher und leerte ihn in einen Papierkorb. »Eigentlich sollte ich ja nicht rauchen«, sagte sie mit einem Griff auf ihren Sechsmonatsbauch. Auf dem Couchtisch standen halb leere und leere Flaschen und etliche von Beileidsbesuchen zeugende Gläser. »Sie müssen entschuldigen. Es ist nicht aufgeräumt. Bitte, nehmen Sie Platz. Und Sie wol len wirklich nichts?« Ihre jurakalkblonden Haare kringelten sich schlaff auf den Schultern. »Das Leben geht weiter, sagen jetzt alle. Und die Kinder brauchen mich ja.«
Vom Couchtisch war die heutige Ausgabe des Reutlinger Tagblatts gewelkt. Richard verteidigte den Sessel, der dort stand, und setzte sich, nachdem Eva und ich Platz genommen hatten.
»Wenn die Beerdigung erst einmal rum ist, dann wird es vielleicht besser«, sagte Eva. »Dann ist das eine abgeschlossen und man kann neu anfangen. Aber sie haben ja noch nicht einmal seine Leiche freigegeben. Und sie sagen auch nicht, wann. Wie soll ich das den Kindern erklären? Was wollen die denn noch finden an einer zur Unkenntlichkeit verkohlten Leiche? Ob er Alkohol im Blut hatte? Als ob das jetzt noch jemanden interessieren müsste!«
»Wissen Sie, Frau Müller«, sagte Richard ruhig, »für die nächsten Angehörigen ist es letztlich besser, sie wissen ganz genau, wie und warum der geliebte Mensch gestorben ist. Auch wenn die Antworten manchmal nicht angenehm sind, so sind es in jedem Fall Antworten, die es Ihnen ersparen zu grübeln und sich zu fragen, ob nicht doch Fehler gemacht wurden, ob nicht doch etwas übersehen wurde und ob nicht doch alles ganz anders war. Nach meiner Erfahrung ist es für die Angehörigen bei spielsweise entscheidend zu wissen, ob Fremdverschul den vorlag oder nicht.«
Sie starrte ihn gläubigen Auges an. Vermutlich hatte sie den Eindruck, jeder Staatsanwalt dürfe mit ihr reden, wie es ihm gefiel. Dass Richard diesen Eindruck nicht berichtigte, zeigte, dass auch er noch nicht ganz mit sich im Reinen war.
»Denken Sie nur an Hark«, ergänzte ich. »Da wurde nie abschließend geklärt, unter welchen Umständen seine Frau ums Leben gekommen ist.«
Evas Gesichtszüge verfielen um einen weiteren Schatten. Hastig fischte sie eine Zigarette aus der Schachtel.
»Gerrit«, fuhr ich fort, »leidet darunter, Hark ist dar über klaustrophobisch geworden, und seine Freunde trau en ihm nicht mehr. Ein halbes Dutzend Leben sind zerstört, zumindest aber haben sie eine andere Wendung genommen. Und nur, weil man nicht genau weiß, was wirklich passiert ist.«
Eva zündete sich zeremoniell die Zigarette an, blies leicht pfeifend den Rauch gegen die Lampe über dem Couchtisch und blickte prüfend zu dem Staatsanwalt hinüber. »Man hätte es wissen können. Das meine ich jedenfalls.«
Richard schwieg, mildes Desinteresse auf dem Gesicht. Mit dem Fuß schob er heimlich unterm Couchtisch die Blätter des Reutlinger Tagblatts auseinander.
»Hark selbst hat damals Winnie angefleht, nichts zu sagen.«
»Was denn?«, traute ich mich kaum zu fragen.
»Hark lag ja ein paar Wochen im Koma. Danach ist Winnie zu ihm ins Krankenhaus, weil er doch den Bericht schreiben sollte. ›Nichts über Sibylle! Sie hat keine Schuld!‹, hat Hark ihn damals angefleht. ›Denk an Ger rit! Sie ist doch seine Mutter!‹ Also hat er doch etwas gewusst, Hark, meine ich, aber danach hat er immer gesagt, er erinnere sich an nichts.«
»Dann war es kein Petzl-Stop-Unfall?«, erkundigte ich mich.
Eva schüttelte den Kopf. »Ich weiß natürlich nur, was mir Winnie erzählt hat. Ich weiß noch, wie er damals heimkam und sagte: ›Sibylle ist tot und Hark wird es vermutlich auch nicht schaffen. Und dann hat er gesagt: ›Weißt du, wonach das aussieht?‹ Sie hat ihm einen Schubs gegeben am Durchschlupf. So wie er gefallen ist.‹ Wir wussten ja alle, dass Sibylle einen andern hatte. Alle wussten das, nur Hark
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