Höhlenwelt-Saga 1 - Die Bruderschaft von Yoor
schien nur darauf gewartet zu haben, einmal wieder so richtig ausgreifen zu können. Sie flogen nur so über das flache Land - zwar nicht so schnell wie bei dem Gewaltritt, den Munuel vor wenigen Tagen mit der Stute Bushka absolviert hatte, aber dennoch in gehöriger Geschwindigkeit. Er kannte den Namen des Pferdes nicht, und wahrscheinlich würde er ihn auch nicht mehr erfahren. Deswegen beschloss er, ihm einen neuen zu geben.
Nach kurzem Nachdenken kam er auf Mario.
Das war der Name eines zahmen kleinen Baumdrachens, mit dem seine Schwester Mira als Kind gespielt hatte.
Baumdrachen waren geheimnisvolle Tiere. Sie waren großartige Flugkünstler, kaum vier Ellen lang, und sie wirkten schmal und zerbrechlich, obwohl sie eine große Zähigkeit besaßen. Sie flogen nicht allein mithilfe ihrer Schwingen, nein, sie benutzten auch magische Kräfte dazu. Mancher hatte schon vermutet, dass sie in Wahrheit ebenso intelligent waren wie die Menschen. Kinder hatten gelegentlich das Glück, einen Baumdrachen für ein Jahr oder zwei als ihren Spielgefährten bezeichnen zu dürfen. Diese Tiere lebten dann in der Nähe der Dörfer irgendwo in einem Wäldchen in den Baumkronen. Warum sie das taten, wusste niemand.
Geheimnisvolle Legenden besagten, dass sich Baumdrachen nur jungen Mädchen anschlössen und dass in jedem von ihnen ein verzauberter Prinz stecke. Romantische Geschichten. Seine Schwester hatte ihm als Kind jedoch geschworen, sie habe einmal mit Mario den legendären Drachentanz vollführt. Munuel lächelte.
Irgendwann verschwanden die Baumdrachen dann wieder, und so war auch Mario damals verschwunden. Mario hatte tiefe, unergründlich schwarze Augen besessen, in denen sich Munuel manchmal regelrecht verloren hatte.
Er war sehr traurig gewesen, als Mario sie damals verlassen hatte. Mit ihm hatte auch seine Schwester Mira das Glück verlassen. Monate später war sie an einer heimtückischen Krankheit gestorben.
Munuel klopfte dem Wallach auf den Hals und rief: »Du heißt jetzt Mario, mein Bester. Gefällt dir der Name?«
Der Wallach, der sich in vollem Galopp befand, richtete kurz die angelegten Ohren auf und wurde für einen Lidschlag langsamer, zog dann aber wieder an. Munuel hatte das Gefühl, dass das Tier seinen neuen Namen tatsächlich verstanden hatte. Der schnelle Ritt ging weiter.
Munuel blickte auf und betrachtete das Sonnenfenster weit oben am Felsenhimmel. An seinem äußersten westlichen Rand glomm es noch kaum wahrnehmbar in tiefem Rot - es waren noch etwa zwei Stunden bis Mitternacht. Zu dieser Zeit würde nur noch das schwach weißlich funkelnde Nachtlicht der Sterne in die Höhlenwelt herabstrahlen. Weitere drei Stunden später würde es dann an seinem östlichen Rand wieder schwach orange zu leuchten beginnen, wenn sich der nächste Tag ankündigte. Bis dahin musste er sein Ziel erreichen.
Aber das würde er bei seiner jetzigen Geschwindigkeit mit Leichtigkeit schaffen.
Da er den Weg vom Nachmittag her noch gut kannte, kam er schnell voran. Nur einmal erspürten seine magischen Sinne einen seltsamen Impuls, der ihm geradewegs entgegenkam. Er lenkte Mario vom Weg weg in ein Wäldchen und wartete. Kaum eine Minute später flogen zwei dunkle Reiter an ihm vorbei - schwärzer als die Nacht noch, kaum dass dabei ein Geräusch zu vernehmen gewesen wäre. Es war also keine Sage - tatsächlich jagten dunkle Reiter durch die Nacht. Ihrer Richtung nach zu urteilen, waren sie vielleicht nach Hegmafor unterwegs.
Munuel durfte keine Zeit mehr verlieren. Er ritt zurück auf den Weg und ließ Mario in Trab fallen. Nach kurzer Zeit wurde das flache Land ein wenig welliger und felsiger. Rechts stieg ein knorriger Felspfeiler empor, der sich offenbar noch viele Meilen in die Tiefe nach Süden erstreckte. Munuel erinnerte sich an ihn - jetzt musste er etwa den halben Weg geschafft haben. Er blickte in die Höhe. Der rötliche Schimmer war nun vollends verschwunden. Die Mitternachtsstunde war angebrochen.
Weitere zwei Stunden später kam sein Ziel in Sicht.
Abgesehen vom Nachtlicht war es am Himmel noch immer völlig dunkel, und an der Südflanke des Felspfeilers vor ihm lag wie ein dunkler, drohender Schatten die Festung von Tulanbaar.
An der Wache vorbei ins Innere der Festung zu gelangen war nicht allzu schwierig gewesen. Munuel hatte den vier oder fünf Wachleuten, die das Burgtor bewachten, eine Illusion eines vorbeifliegenden Sonnendrachens vorgespielt. Als die Soldaten mit offenem Mund zum Himmel
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