Höhlenwelt-Saga 1 - Die Bruderschaft von Yoor
vorhatte. Er wollte sich mit einem Levitationszauber auf den Sims hinaufkatapultieren, der mehr als fünf Mannslängen über seinem Kopf an der Wand unter dem Fenster entlang verlief. Er trat von der Mauer weg und blickte nach oben. Es würde eine mächtige Iteration werden - die siebte Stufe wahrscheinlich -, und er würde keine Zeit haben, den Energiefluss gemächlich zu steuern. Er musste dort hinauf, und das möglichst innerhalb einer Sekunde. Entweder gelang es ihm, das Aurikel sauber zu setzen, oder es würde Störungen geben. Hinauf würde er auf jeden Fall kommen, es fragte sich nur, wie viele Magier im Umkreis von hundert Meilen er dabei aus dem Schlaf riss. Am besten natürlich gar keinen. Und schon gar nicht denjenigen, der sich irgendwo in der Feste aufhielt.
Wie es Munuels Art war, überkam ihn der Entschluss sehr plötzlich, den Zauber zu wirken, und schon eine Sekunde später befand er sich in luftiger Höhe, mit den Füßen fest auf dem Sims, in herabgebückter Haltung die Hände an den Fenstersims gekrallt. Mit größter Sanftheit setzte er das Norikel und lauschte sofort am Trivocum, was geschehen war. Das Echo seiner Iteration war lange nicht so stark, wie er befürchtet hatte. Obwohl es keinen vernünftigen Grund dafür gab, wagte er kaum zu atmen, rührte sich nicht und hielt sogar seine Gedanken an - so als könnte dies im Nachhinein das Echo herabmildern.
Nein, offenbar hatte er tatsächlich niemanden aufgestört. Alles um ihn herum blieb ruhig. Endlich entschloss er sich dazu, sich dem eigentlichen Vorhaben zu widmen. Er stemmte sich vorsichtig hoch und spähte durch das offene Fenster ins Zimmer. Wie er erwartet hatte, glommen dort tatsächlich die Reste eines Kaminfeuers, und der Grund für das offene Fenster bestand eindeutig darin, dass der Raum überheizt gewesen war. Wahrscheinlich war jemand in diesem Zimmer, aber die Chancen standen gut, dass er schlief.
Er öffnete das Fenster weiter und zog sich hinauf, so leise er konnte. Diese Seite des Turms lag abseits des Burgtors, sodass keine Gefahr bestand, dass ihn die Wachen erblickten. Er beeilte sich trotzdem, denn es konnte Patrouillen geben.
Schließlich kniete er im offenen Fenster und konnte weiter in den Raum hineinsehen. Er war mittelgroß, nicht allzu hoch, und geradeaus vor ihm, an der gegenüberliegenden Wand, glühten die Reste eines Feuers im Kamin.
Links daneben befand sich eine Tür, und rechts sah er eine kleine Speisetafel mit sechs hochlehnigen Stühlen.
Dahinter stand eine Kommode, und über ihr hing ein Webteppich an der Wand. Die andere Seite des Raums war jedoch interessanter. Dort war ein geräumiges Bett in eine Wandnische eingebaut. In dem Bett lag eine Frau, den nackten Rücken Munuel zugewandt. Sie schlief offenbar fest.
Obwohl nur wenig von ihr zu sehen war, erkannte Munuel mit Kennerblick, dass es sich um eine Schönheit handeln musste. Die Konturen unter der flachen Decke verrieten einen schönen Körper, und das weiche braune Haar, das sich über das Kopfkissen ergoss, verriet, dass sie sich pflegte und auf ihre Erscheinung achtete.
Munuel riss sich von dem Anblick los und schalt sich einen Narren. Jetzt war beileibe nicht die Zeit, sich am Anblick schöner Frauen zu erfreuen. Unterhalb des Fensters stand, wie von einem Engel bereitgestellt, ein Stuhl, den Munuel benutzen konnte, um ins Zimmer zu steigen. Lautlos erreichte er den Boden. Die junge Frau im Bett rührte sich nicht. Noch einmal leistete er sich einen Blick auf ihre wunderschöne, im Feuerschein schimmernde Haut, dann schlich er geradeaus weiter, in die Richtung, wo die Tür lag.
Als er auf halber Höhe im Raum stand, hielt er plötzlich inne. Ein heiß-kaltes Gefühl durchströmte ihn - es war eines der unangenehmsten Art, eines, das von der Wahrnehmung einer grässlichen Gefahr herrührte. Mit einer plötzlichen, tonnenschweren Last auf den Schultern wandte er sich nach dem Bett um - und sah, dass hinter der Frau eine weitere Person in dem Bett lag. Schlafend, zum Glück. Munuel wusste im gleichen Augenblick, dass dies sein Gegner war. Der Magier, der sich der dunklen Magieform bediente. Er konnte ihn nicht erkennen, er schlief im Schatten der Frau, nur die Kontur seines Körpers unter der Decke war zu erkennen. Und in diesem Moment regte er sich.
Mit einem schnellen Schritt war Munuel aus dem Sichtfeld in einen Schatten getreten. Er unterbrach seine ständige schwache Verbindung zum Trivocum, wie man ein Tau mit einer Axt kappt.
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