Höhlenwelt-Saga 1 - Die Bruderschaft von Yoor
war uralt und höchst kompliziert, denn sie war einst dafür erfunden worden, dass Mitglieder der Ordenshäuser sich gegenseitig Nachrichten senden konnten, ohne dass ein Fremder in der Lage war, sie zu entziffern. Zur Entschlüsselung gehörte zusätzlich noch eine Iteration der ersten bis achten Stufe, je nachdem, wie geheim die Botschaft war. Die Iteration würde gewisse Teile der Schriftzeichen erst sichtbar machen. Aber Leandra machte sich keine Illusionen. Wenn dieser Text nicht in den allereinfachsten Worten verfasst war, dann standen ihre Chancen nicht allzu gut, ihn zu entziffern.
Sie setzte sich auf die Bettkante und schimpfte leise. Wenn sie den Text nicht lesen konnte, würde sie zu Munuel gehen und ihn fragen müssen. Welche Peinlichkeit! Ihr war nicht bekannt, ob es eine Möglichkeit gab, eine Adeptin wieder zu einer Novizin zu machen, aber sollte das der Fall sein, dann war sie jetzt nahe daran.
Immerhin - an die Intonationen zur Entschlüsselung erinnerte sie sich. Sie nahm an, dass Munuel nicht über eine zweite Iteration hinausgegangen war. Sie konzentrierte sich und sprach die erste Intonation aus.
Ter-In-Sec.
Das bekannte wärmende Gefühl ihrer Verbindung zum Trivocum kam auf. Dann setzte sie den Schlüssel, Jaas, eine Erdmagie - aber das Prickeln durchströmte sie wie ein Bündel dorniger Ranken. Ihre Magie war von katastrophaler Rohheit - ein Wunder, dass sie überhaupt funktionierte. Sie fluchte verbissen und machte weiter, sprach die zweite Intonation aus. Das Aurikel entstand -und es war ein Witzbild. So eines hatte Munuel einmal als Beispiel einer total misslungenen Iteration auf seine Schiefertafel gemalt, und sie hatte sich damals darüber kaputtgelacht.
Trotzdem stand das Aurikel, und sie machte wütend weiter. Ihr Inneres Auge, mit dem sie das Pergament in ihren Händen fixierte, sagte ihr, dass sie richtig lag - die Verschlüsselung lag in der zweiten Stufe. In diesem Moment ärgerte sie sich maßlos, dass sie das Erlernen der Gildenschrift so vernachlässigt hatte. Warum hatte Munuel diese Nachricht überhaupt geschrieben? Wollte er sie etwa testen? Das sähe ihm eigentlich gar nicht ähnlich.
Sie schloss das Innere Auge ein wenig und versuchte, ihren Blick so gut wie möglich auf das Papier zu fokussieren. Aber auch das würde nichts helfen - wenn sie die Schriftzeichen nicht verstand, dann verstand sie sie eben nicht.
Sie begann die Zeichen zu studieren. Es waren einige neue Bögen, Unterlängen und Striche hinzugekommen, das konnte sie leicht erkennen. Aber als ihr klar wurde, dass sie nicht mal ihren eigenen Namen richtig lesen konnte - denn dort in der Überschrift, das musste er ja sein -, entfuhr ihr ein enttäuschter Seufzer. Sie machte sich daran, die Zeichen mit aller Sorgfalt zu studieren und sich aller Details der Gildenschrift zu entsinnen, die überhaupt noch irgendwo in den Winkeln ihrer Erinnerung herumspukten. Nach einer geraumen Weile glaubte sie, den groben Sinn erkannt zu haben. Der Inhalt schien zu bedeuten, dass Munuel gar nicht mehr hier war, denn er verabredete sich offenbar mit ihr. Nur wann und wo, das konnte sie beim besten Willen nicht herausfinden.
Vor lauter Wut über ihre verpatzte Iteration fing sie sich einen scharfen, heißen Stich ein, der durch ihren Körper zuckte, als sie das Norikel zornig ins Trivocum hieb. Wütend fuhr sie in die Höhe und war einen Moment lang versucht, ihrem Zorn durch einen lauten Fluch Luft zu machen. Im letzten Moment beherrschte sie sich jedoch.
Dafür lenkte sie ihren Unmut auf Munuel, der schließlich der Verantwortliche für diesen Verdruss war.
Nur mit einem langen Nachthemd bekleidet, marschierte sie zur Tür, riss sie unsanft auf und polterte den Flur entlang. Sie öffnete die Tür zu Munuels Zimmer -und tatsächlich, ihr alter Lehrmeister war nicht da. Hätte er ihr nicht sagen können, was er vorhatte? Oder ihr eine in normaler Schrift verfasste Nachricht hinterlassen können?
Was konnte es schon so Wichtiges geben, dass man es in dieser uralten Krakelei niederschreiben musste? Sie trat zu der kleinen Kommode und riss die Schubladen auf - sie waren leer. Munuel war offenbar nicht nur kurz weggegangen, sondern er hatte all seine Sachen mitgenommen. Und sie wusste nicht, wo und wann er sie treffen wollte. Eine schöne Bescherung!
Das Mädchen hatte vor Schreck die Hand vor den Mund gehoben und den anderen Arm vor den Körper gelegt, als könnte es sich dahinter verbergen. Aber entgegen Munuels
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