Höhlenwelt-Saga 1 - Die Bruderschaft von Yoor
Prinzip der Kräfte
D ie Canimbra erwies sich zuletzt doch als ein härterer Brocken, als es Victor sich im ersten Augenblick vorgestellt hatte. Noch bis zu dem Zeitpunkt, da Leandra ihre Vermutung geäußert hatte, wäre er nicht einmal im Traum darauf gekommen, dass er je der Träger eines der Stygischen Artefakte sein könnte.
Die Magier stimmten so schnell zu, dass er keine Gelegenheit bekam, sich erst einmal mit diesem Gedanken anzufreunden. Da kam ziemlich viel auf ihn zu. Er würde eine wesentliche Fähigkeit der Magie erlernen müssen - das Trivocum zu erkennen und zu beobachten. Das hätte ihn eigentlich begeistern müssen, denn er hatte sich sein ganzes Leben lang gewünscht, magische Fähigkeiten zu besitzen. Unter den gegebenen Umständen allerdings war das alles nicht mehr so leicht zu verdauen. Der zweite entscheidende Punkt war der, dass nun außer Frage stand, dass sie zu sechst nach Unifar gehen würden. Jetzt, da sie die Canimbra einsetzen konnten - sofern Victor nun endlich diese Sache mit dem Trivocum begriff -, mussten sie um jeden Preis angreifen. Wenn es überhaupt noch eine Chance gab, eine Wende herbeizuführen, dann war jetzt der Zeitpunkt gekommen.
Dennoch war dies nur wenig besser als die Aussicht, direkt in die Hölle hinabzusteigen. Keiner wusste, was sie im Tempel von Yoor erwartete, sie hatten allenfalls den kleinen Überraschungseffekt auf ihrer Seite. Gut -sein Leben war schon seit Wochen in ständiger Gefahr, aber immerhin hatte er sich bisher auf der Rückzugslinie befunden. Jetzt so plötzlich zu einem Frontalangriff überzugehen war eine ganz andere Sache.
Aber seine größte Sorge galt Leandra. Immerhin besaß er nun eine mächtige Defensivwaffe, und er würde ihr damit keinen Millimeter von der Seite weichen. Solange er noch atmen konnte, würde er sie damit beschützen und dafür sorgen, dass ihr nichts geschah. Jedenfalls dann, wenn er es irgendwann in seinem Leben noch hinbekommen würde, dieses verdammte Trivocum endlich zu erblicken.
»Das Problem liegt darin«, sagte Leandra leise, »dass du noch immer an deiner eigenen Logik scheiterst. Du kannst dich noch nicht auf etwas einlassen, was dein Verstand für nicht möglich hält.«
Victor nickte unschlüssig. Sie hatten sich gemeinsam in den kleinen Raum zurückgezogen, in dem Leandra nach ihrer Begegnung mit Ulfa zu sich gekommen war. Sie war sehr geduldig, und schon seit Stunden versuchte sie mit aller Sanftmut, ihm die grundlegenden Prinzipien der Magie begreiflich zu machen. Er fragte sich, woher sie die Kraft nahm, sich weiterhin mit ihm zu beschäftigen, denn nach seiner augenblicklichen Ansicht war er die blanke Verkörperung magischen Versagertums.
Es waren der Abend, die Nacht und der folgende Vormittag vergangen, und Tharlas und Munuel hatten sich stundenlang mit ihm abgegeben und ihm alle Prinzipien der Kräfte erklärt. Sie sagten, es wäre schwierig, einem Sechsundzwanzigjährigen das Innere Auge zu öffnen - fast alle Magier fingen als Zehn- oder Zwölfjährige mit der Magie an, im Rang eines Novizen. In diesem Alter waren Kinder noch nicht so sehr mit der realen, logischen Vorstellungswelt verhaftet, und die meisten, die ein Talent besaßen, erhaschten oft schon nach wenigen Stunden den ersten Blick auf die magische Grenzlinie.
Munuel und Tharlas hatten sich sehr viel Mühe gegeben und mit aller Geduld seine ersten Erfolge abgewartet, dann aber, nach über zehnstündiger Sitzung, hatten sie alle eine Pause gebraucht. Sie hatten einige Stunden geschlafen und morgens weitergemacht. Irgendwann hatte Tharlas und dann auch Munuel verzweifelt aufgegeben. Danach hatte Leandra übernommen und sich mit ihm weitab hingesetzt. Im Augenblick war er von Selbstzweifeln zersetzt, kam sich vor wie ein Schwachsinniger.
»Du hast schon dein ganzes Leben«, fuhr sie mit sanfter Stimme fort, »Dinge aus einer bestimmten Blickrichtung betrachtet. Aber es gibt noch eine andere, verstehst du? Dein Gefühl weiß es inzwischen, aber dein Verstand will es noch nicht wahrhaben. Du schließt die Augen und erwartest, dass es dann dunkel ist und du dann nichts mehr sehen kannst. Und weil du es erwartest, ist es auch so. Aber das muss nicht so sein. Wie könnte ich das Trivocum sonst sehen - wenn es gar nicht da wäre?«
Er sah sie verzweifelt an. Die Szene erinnerte ihn an sein erstes Mädchen, mit dem er schlafen wollte - und er hatte nicht gekonnt. Es war ihm unmöglich gewesen, zu verstehen, warum. Später war er dann darauf
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