Höhlenwelt-Saga 6 - Die Mauer des Schweigens
kaum
eine Chance gegen solch ein Monstrum gehabt. Aber die beiden
waren ja zum Glück nicht da.
Als ein Brausen in seiner Nähe anschwoll, verkrampfte sich Marko unwillkürlich. Diesen Sprung hatte er bisher noch nicht gewagt.
Augenblicke später war es schon so weit. Mit Kraft wurde er
durch einen Schlund gezogen und augenblicklich wieder ausgespuckt; helles Tageslicht brach über ihn herein, und nach einem
zwanzig Ellen tiefen Sturz schlug er mit einem mächtigen Platschen im See der Halle der Jungdrachen auf.
Für einige Augenblicke blieb ihm die Luft weg; während er sich
zu orientieren versuchte, wurde ihm klar, dass er sein Schwert
losgelassen hatte. Er stieß sich in die Höhe und fragte sich, woher
der alarmierende Gedanke stammte, dass er es jetzt gleich brauchen würde. Dann durchbrach er die Wasseroberfläche.
In der Halle der Jungdrachen war buchstäblich die Hölle los.
*
Die größte aller Höhlen der Drachenkolonie war für die Jungdrachen reserviert. Hier konnten sie nach Herzenslust herumtoben
und ihre Wettkämpfe austragen, ohne dass sie die Erwachsenen
oder Alten gestört hätten. Marko war immer gern an diesem Ort
gewesen; die Vitalität der jungen Drachen, ihre Lebensfreude und
ihr Temperament empfand er als aufregend und ansteckend. Das
Toben jedoch, das ihm jetzt entgegenschlug, hatte einen völlig
anderen Charakter. Als er sich am Rand des kleinen Sees emporstemmte, sah er, dass die ganze Halle ein einziges, wirbelndes
Chaos war. In der Luft schossen an die fünfzehn junge Drachen
mit wütendem und aufgeregtem Geschrei kreuz und quer durcheinander. Der Grund für diesen Tumult waren mehr als ein Dutzend Schattenwesen, die sich in der riesigen Halle verteilt hatten.
Es waren in schwarze oder schwarzgraue Lumpen gehüllte menschliche Gestalten, grausig anzusehen, mit halb zerfressenen Leibern und verfaulten Gesichtern – so mochten Tote aussehen,
wenn sie ein halbes Jahr in der Erde vergraben gewesen waren.
Es gab auch dürre Mönchsgestalten und hundeartige Vierbeiner
unter ihnen; allen gemein war, dass sie grunzend umhertappten
und sich zuweilen sogar anrempelten. Dann erblickte Marko mehrere große, seltsam weißlich aussehende Kreaturen, die in der
Lage waren, Magien zu wirken. Hier und dort fauchte eine Lanze
aus kaltem Feuer in die Höhe, doch wenn die jungen Drachen
eines beherrschten, dann war es die Kunst zu fliegen. Keiner von
ihnen wurde getroffen. Behände wichen sie den Magien der
Schattenwesen aus und quittierten jede einzelne mit wütendem
Gekreische.
Marko wusste, dass die Fähigkeiten der Jungdrachen in Sachen
Magie noch unterentwickelt waren. Um eines der Schattenwesen
anzugreifen, hätten sie herabstoßen und es direkt mit ihren Klauen angreifen müssen. Fünfzehn erwachsene Drachen hätten kurzen Prozess mit den Untoten gemacht, wahrscheinlich hätte sogar
ein einzelner mit ihnen fertig werden können. Die Jungen aber
waren längst noch nicht so weit. Immerhin, an einigen Stellen
konnte Marko so etwas wie verbrannte Aschehaufen erkennen.
Einige der älteren Jungdrachen schienen den Mut für einen Angriff
aufgebracht zu haben. Und schnell waren sie alle. Er konnte keinen einzigen toten oder verletzten Jungdrachen entdecken.
Dann sah er, dass sich hier tatsächlich jemand um das Wichtigste gekümmert hatte: Der Wächterstein lag an seinem Platz, in
einem Runenkreis auf einer Steinplatte in der Hallenmitte. Die
kleinen Spinnenfreunde der Drachen hatten ihr Werk getan. Die
große Einflugöffnung, die nach Norden hinaus in den freien Himmel führte, war von einem kaum wahrnehmbaren Geflecht verschlossen. Wäre es Nacht gewesen, hätte man dort, so hatte ihm
Nerolaan erklärt, ein schwaches grünliches oder rötliches Leuchten erkennen können. Auch der große, nach Süden zum Stausee
führende Tunnel war mit einem solchen Netz versiegelt. Nerolaan
hatte ihm versichert, dass nichts auf der Welt diese Netze durchdringen konnte.
Seine Augen forschten nach Roya. Er wusste nicht, ob einer der
Jungdrachen in der Lage gewesen wäre, den Wächterstein dorthin
zu schieben. Für einen erwachsenen Drachen wäre das kein Problem gewesen, aber vielleicht war Roya deswegen hierher gekommen. Marko wagte nicht, sich voll aufzurichten, doch im Moment
konnte er nichts von ihr sehen.
Der Tumult in der Halle wollte nicht abebben; nach einer Weile
kam es ihm so vor, als nähme die Zahl der Dunkelwesen zu.
Konnte das sein? Alarmiert duckte er sich.
Dunkelwesen… es
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