Höhlenwelt-Saga 6 - Die Mauer des Schweigens
bemühen, seinen befehlsgewohnten Habitus zu unterdrücken. »Ich sorge mich nur um Eure Sicherheit, Shaba«, erwiderte
er gepresst.
»Das erkenne ich an«, erwiderte sie, ihm unmittelbar gegenüberstehend. Sie war ebenso groß wie er, sah ihm geradewegs ins
Gesicht und hielt seinen scharfen Blicken mühelos stand. »Aber
solche Reden verbitte ich mir, Hochmeister. Sonst werdet Ihr
mich kennen lernen! Habt Ihr verstanden?« Er brauchte ein paar
Sekunden, ehe er sich zu einem grummelnden »Ja, Shaba«
durchringen konnte. Sie wandte sich an alle Anwesenden, ihre
Worte aber galten weiterhin hauptsächlich Jockum. »Wie ich bereits sagte: Ich habe selbst schon einiges durchgemacht. Ich bin
kein kleines Mädchen mehr! Ich weiß durchaus, wann ich mich
zurückhalten muss, aber als Shaba verlange ich, die Zügel in der
Hand zu behalten. Ihr könnt mich nicht einfach zu Hause einsperren und alles, was ein bisschen gefährlich ist, auf eigene Faust
erledigen! Besonders nicht, wenn es Malangoor betrifft. Ich bin
eine der Schwestern des Windes, und Malangoor ist mein Rückzugsort, mein wichtigster Außenposten.«
Jockum ertrug die Standpauke mannhaft. Seine Blicke sprachen
Bände, aber er hielt an sich. Alle wussten, dass sein einziger Beweggrund die Sorge um Alina war. Mit ihr stand oder fiel die
Kontrolle über das Reich Akrania.
»Nun dürft Ihr wieder zum vertrauten >du< zurückkehren,
Hochmeister«, fügte sie hinzu und sah die anderen der Reihe
nach an. »Und was euch angeht: Gewöhnt euch lieber daran,
dass ich nicht mehr im Palast sitzen bleiben werde, während ihr
durch die Welt zieht.
Das ist nichts für mich. Ich spiele gern mal die feine Dame,
wenn es sein muss.
Aber irgendwann muss auch ich wieder aus meinem goldenen
Käfig freikommen.«
Victor verstand sie nur zu gut. Vor nicht allzu langer Zeit hatte
ihn Leandra in die gleiche Rolle gedrängt – als zu bedeutende
Person, die sich dem wohl wichtigsten aller Kämpfe hätte fern
halten sollen. Doch ihm ging es wie Alina. Zu Hause sitzen zu
bleiben und alle Aufgaben, die ein bisschen gefährlich waren, andere erledigen zu lassen, das lag ihm nicht.
Niemand widersprach Alina, Victor strich ihr sogar beipflichtend
mit der Hand über den Rücken. Sie schenkte ihm einen zufriedenen Blick und nickte. »So, nun Schluss damit. Was ist hier los?
Was ist geschehen? So leer habe ich das Drachennest noch nie
gesehen.«
Victor berichtete ihr, wie sie diesen Ort vorgefunden hatten.
Alinas Miene spiegelte wachsende Bestürzung.
»Hellami und Ihr, Hochmeister, geht voraus«, kommandierte sie
und schlüpfte aus dem Kurzbogen, den sie sich übergestreift hatte. Sie langte nach einem Pfeil. »Wir anderen folgen. Ich bleibe
mit meinem Bogen im Hintergrund. Damit sich niemand um mich
fürchten muss. Los jetzt.«
Alinas Entschlossenheit wirkte. Hellami packte ihr Schwert fester und setzte sich in Bewegung. Sogar der Primas tat, wie ihm
geheißen.
Sie passierten das zerschmetterte Holztor am Westrand der
Vorhalle. Es war keine wirkliche Befestigung gewesen, sondern
hatte hauptsächlich dem Zweck gedient, den Luftzug innerhalb
der Höhlen nicht anschwellen zu lassen, wenn eigentliche die Eingangstür zum Drachennest, die weiter vorn lag, geöffnet wurde.
Sie eilten einen leicht ansteigenden, breiten Gang hinauf und erreichten schließlich die Eingangstür. Sie war ebenfalls zerschmettert und zusätzlich verbrannt. Betroffen blieb Hellami stehen. Diese Tür war wie aus Metall gewesen: sehr schwer, aus mehreren
Schichten Schwarzholz bestehend und mit einer besonderen Magie zu äußerster Widerstandskraft gehärtet.
Victor trat die verkohlten Reste der Tür mit dem Fuß beiseite.
»Als die Dunkelwesen hier hereinbrachen, waren sie noch wesentlich stärker«, stellte er fest.
»Womöglich löst sich der Dämon gerade auf und kehrt ins Stygium zurück«, meinte der Primas. »Das würde erklären, warum
die Dunkelwesen so schwach sind.«
Alina studierte seine Züge. »Wenn es so ist – sollte uns das
nicht freuen?«, fragte sie. »Ihr seht nicht gerade erleichtert aus.«
Er schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, Alina. Wenn das
wirklich zutrifft, würde es bedeuten, dass er keine Nahrung mehr
findet. Nichts Lebendiges mehr, was er zerstören könnte.«
Ein Schauer durchlief sie. Hellami drängte sich an Victor vorbei.
»Nun wär’s mir doch lieber, Cathryn wäre hier«, murmelte sie
leise. Victor verstand. Eigentlich gab es immer Gründe, dass
möglichst alle
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