Höllenherz / Roman
anderer Sinn, dem er seine Vorahnungen »verdankte«, schepperte buchstäblich, weil er hier etwas zutiefst Falsches wahrnahm. Kein Wunder, denn hier stank es nach Gewalt und Terror.
»Wo ist die Zeichnung?«, fragte Baines einen jungen Polizisten, der am Fenster stand.
»Da.« Der Mann zeigte auf eine Wohnzimmerwand.
Als er hinsah, ärgerte er sich, dass er sie nicht früher bemerkt hatte. Andererseits fiel sie auch nicht direkt auf, sah sie zunächst doch eher wie noch mehr Blut auf einer blutbespritzten Wand aus.
»Und?«, fragte Baines.
Lor trat näher. Das Symbol war sehr ungelenk gezeichnet und in einer sonderbaren Höhe. Es war mit Blut gemalt, das inzwischen rostbraun aussah und teils in die weißgraue Wandfarbe eingezogen war. Lor schätzte den Abstand zwischen Fußboden und Zeichnung. »Wie es aussieht, hat derjenige, der das malte, gekniet und das Blut mit den Fingern vom Teppich aufgenommen.«
Baines nickte. »Und was bedeutet das Zeichen?«
Zuerst wirkte es auf Lor wie eine bedeutungslose Kleckserei. Wenn er blinzelte, erinnerte es ihn an eine Welpenzeichnung von einer Sommersonne. Oder eine zerquetschte Spinne. Oder einen Kopf mit zauseligem Haar. Was hatte der Cop sich gedacht? Gang-Symbole waren wahrlich ausgefeilter. »Ehrlich, ich weiß es nicht.«
Baines zuckte mit den Schultern. »Tja, einen Versuch war’s wert.«
Lor richtete sich auf und betrachtete die Zeichnung weiter, um sich später detailgenau daran zu erinnern. Als er einen letzten Blick auf die Wand warf, bemerkte er einen winzigen Schnörkel, der aus den unteren Schmierlinien herausragte. »Da steht etwas unter dem Blut. Es ist fast vollständig überdeckt.«
Baines hockte sich sofort hin und neigte seine Nase zur Wand. »Das ist mit Bleistift geschrieben.«
Er zog eine stiftförmige Taschenlampe hervor und richtete den Lichtstrahl direkt auf die kleinen Buchstaben. Die Schrift war krakelig mit unterschiedlich großen Lettern. Lors eigene Handschrift war ähnlich unebenmäßig.
»Vincire«,
las Baines vor. »Latein. Irgendwas mit einem Band, glaube ich. Ist Jahre her, dass ich Latein hatte.«
»Latein?« Lor dachte an das Feuer, die schwarze Magie, Talia und die Tote neben ihnen. »Was für ein Band?«
Baines antwortete nicht. Er richtete sich wieder auf und sah zum Fenster. »Hmm. Jetzt schneit es richtig.«
Lor folgte seinem Blick. Dicke Flocken wirbelten im Schein der Straßenlaternen und wurden vom Wind zu Spiralen gedreht. Ein kurzer Moment der Verwunderung überkam Lor.
So sieht also Schnee aus.
Er kannte ihn nur von Bildern.
»Ich habe geträumt, dass es schneien würde.« In dem Traum hatte ihn etwas gejagt. Der Schnee war so tief gewesen, dass er nicht laufen konnte und ihm keine Wahl blieb, als sich umzudrehen und sich dem Gegner zu stellen.
Prophezeiungen kamen ihm immer im Traum. Sie stellten die Gabe und die Bürde dar, die dem Alpha des Rudels von den Propheten verliehen wurden. Das Problem war nur, dass Lor unterscheiden musste, was zu der Prophezeiung gehörte und was zu den Nachwirkungen einer drei Tage alten Pizza aus dem Kühlschrank. Diesmal schien der Traum wohl doch eine Warnung gewesen zu sein.
»Der Schnee ist fraglos ein Alptraum«, grummelte Baines. »Morgen früh wird auf den Straßen die Hölle los sein. Hier weiß keiner, wie man in dem Mist fahren soll.«
Der Detective wandte sich wieder vom Fenster ab und wurde merklich steifer. Er sah zu einem Schreibtisch mit einem Laptop darauf, der ganz in die Ecke geschoben war. Lor erkannte die Trümmer eines leidenschaftlichen Denkers auf Anhieb: Marker, Haftnotizen, zerrissene Papierfetzen, die als Lesezeichen benutzt wurden, und mehr Bücher, als irgendjemand innerhalb eines überschaubaren Zeitrahmens lesen könnte. Ein Lehrer vielleicht? Ein Stapel Papiere lag auf einer Schreibtischecke. Auf einer Titelseite ganz oben stand
Das verlorene Paradies.
Lor fragte sich, wie jemand lange genug stillsitzen konnte, um so viele Bücher zu lesen.
»Was macht die vermisste Cousine beruflich?«, fragte Baines in den Raum hinein, laut genug, dass sich alle angesprochen fühlten.
Die Antwort lieferte derselbe junge Cop, der auf das Blut an der Wand gezeigt hatte: »Rostova ist Gastdozentin an der Uni. Sie hat einen Bachelor in Pädagogik und einen Master in Literaturwissenschaften.«
Baines stieß einen leisen Pfiff aus. »Dann kann sie also Latein?«
»Ja, würde ich vermuten«, antwortete der junge Polizist.
Lor verstand, warum Baines fragte. Auf dem
Weitere Kostenlose Bücher