Höllenknecht
genau, wo der Kopf gelegen hat.»
Der alte Schlomo schritt mit schlurfenden Schritten voran. Richter Blettner folgte, die Wachstafel und den Griffel gezückt.
«Hier!» Der Rebbe deutete auf einen Fleck, der nur wenig größer als ein Kopf war. Blettner rief einen Büttel mit einer Fackel näher, doch es war noch immer zu dunkel, um etwas erkennen zu können.
«Habt Ihr einen Zuber?», fragte er den Juden.
«Natürlich. Wozu braucht Ihr ihn?»
«Ich will den Fleck damit bedecken. Womöglich regnet es noch einmal in dieser Nacht, und es werden Spuren zerstört. Oder irgendwer rennt darüber.»
Der Rebbe nickte. Er klopfte an das Nachbarhaus. Eine Frau öffnete ihm, ein dünnes Tuch über ihr Nachtgewand geworfen.
«Ruth, geh und hol einen Zuber», bat der Rebbe.
Kurz nachdem der Fleck abgedeckt war und Heinz Blettner den alten Mann nach Hause geschickt hatte, wies er den Büttel an, die Nacht in der Judengasse zu verbringen und alles Verdächtige zu notieren. Er reichte ihm zu diesem Zweck seine Wachstafel.
«Ich kann nicht schreiben», gestand der Büttel. Heinz verdrehte die Augen. «Dann malst du eben, was dir auffällt.»
Er forderte den Henker auf, den Kopf mit sich zu nehmen.
«Wollt Ihr ihn nicht betrachten?», fragte der Scharfrichter.
Richter Blettner wandte sich ab und schüttelte den Kopf. «Lieber nicht. Ich habe einen empfindlichen Magen und noch nicht gefrühstückt. Morgen werde ich bei Euch vorbeikommen.»
Heinz Blettner war schon lange genug Richter und hatte oft Tote gesehen, sodass die Criminalia seine innere Ruhe im Allgemeinen nicht besonders störten. Dieser Fall aber lag anders. Dieser Tote, dachte Heinz, war irgendwie schutzloser als die anderen Gemeuchelten. Vielleicht erschien ihm das so, weil er nicht mehr als Ganzes vorhanden war.
Zumeist vermochte es Heinz, sich sowohl in die Opfer als auch in die Täter zu versetzen. Und unter gewissen Umständen, das wusste er, würde er selbst zum Mörder werden können. Wenn sich jemand an seiner Hella verginge, dann würde er sicher nicht auf die städtische Gerichtsbarkeit vertrauen. Und wenn er die Möglichkeit bei sich selbst sah, dann hatten andere auch ihre speziellen Gründe und Anlässe. Aber dieses Zerstückeln, dachte Heinz, dafür habe ich kein Verständnis. Nicht den kleinsten Funken. Beim Nachhausegehen dachte er darüber nach, in welcher Verfassung sich ein Mensch wohl befinden musste, um jemanden zu zerteilen und dann noch mit den Zähnen Fleischbatzen aus ihm herauszureißen. Wut, dachte er. Rasende,ohnmächtige, himmelhohe und höllentiefe Wut. Heinz blieb stehen, holte tief Luft und sah in den Sternenhimmel. Vielleicht, grübelte er, ist diese grenzenlose Wut aber auch nur vorgetäuscht? Er ging weiter, den Blick nun auf das Pflaster gerichtet. Die dritte Möglichkeit, die ihm in den Sinn kam, war, dass es sich bei dem Täter doch um einen Verrückten handeln musste. Heinz Blettner gähnte. Doch er wusste, dass er in dieser Nacht keine Ruhe mehr finden würde.
Wenig später saß er in seinem Arbeitszimmer, holte sich eine neue Wachstafel und begann aufzuschreiben, was die Ermittlungen bisher ergeben hatten. Bei dem Toten handelte es sich also um eine unbekannte männliche Leiche. Vermisst wurde derzeit nur ein Lebkuchenbäcker. Aber der war mindestens doppelt so breit wie der zerstückelte Leichnam. Konnte es sein, dass der Tote kein Frankfurter war? Und wo war der Mord geschehen?
Dort, wo der Rumpf gefunden worden war? Heinz Blettner schüttelte den Kopf. Er hatte von seinem Schreiber unzählige Leute befragen lassen, niemand wollte irgendetwas gesehen haben. Auch der Rebbe, der die ganze Nacht wach gewesen war, hatte nichts Verdächtiges gehört oder gesehen. Die Judengasse wurde abgeschlossen. Wie also kam der Kopf nach Einbruch der Dunkelheit dorthin? War der Täter ein Jude?
Heinz Blettner erschrak. Er musste unbedingt dafür sorgen, dass der Fundort des Kopfes nicht bekannt wurde. Er kannte seine Frankfurter. Im Grunde waren sie ein friedlichliches Völkchen, aber wenn sie Angst hatten, konnten sie unberechenbar sein. Und der Menschenfresser machte ihnen Angst. Gut möglich, dass einige die Gelegenheit nutzten, um das Volk gegen die Juden aufzuwiegeln. Immerhinwar ja auch schon behauptet worden, dass sie die Hostien schändeten und schlimme Dinge mit kleinen Christenkindern anstellten.
Sofort machte sich Heinz Blettner noch einmal auf den Weg und befahl dem Büttel, den er in der Judengasse samt Wachstafel
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