Hoellenpforte
vor einer breiten Treppe, die zwischen zwei alt aussehenden gelben Mauern aufwärts führte. Die Stufen waren mit schwarz-weißen Mosaiksteinen belegt und in gepflegten Beeten wuchsen Zwergpalmen. Hinter den Mauern ragten Bäume auf. Sie hatten ihre Blätter noch nicht abgeworfen und verdeckten die Sicht auf die hässlichen Läden und Wohnblocks. Es war, als würde man durch einen Park gehen. Der Fahrer stieg aus und gab uns ein Zeichen, ihm zu folgen. Wir schnappten uns unser Gepäck. Etwa auf halber Höhe der Treppe kamen wir an ein Metalltor, das sich automatisch öffnete, als wir uns ihm näherten.
Es war kein Park auf der anderen Seite. Es waren ein Privatgarten mit einem Innenhof, einem abgeschalteten Springbrunnen aus Marmor und dahinter einem gigantischen Haus im spanischen Stil. Es war gelb gestrichen, genau wie die Mauer, hatte grüne Fensterläden und einen Balkon im ersten Stock. Es sah ein wenig aus wie ein Botschaftsgebäude – etwas, was man normalerweise nicht betreten darf. Das Haus schien der Mittelpunkt einer eigenen Welt zu sein. Obwohl es mitten in Macau stand, wirkte es wie ein Landsitz.
»Beeindruckend«, sagte Richard.
Der Fahrer gab uns ein Zeichen und wir setzten uns wieder in Bewegung.
Auch die Vordertür öffnete sich, als wir auf sie zugingen. Eine Hausangestellte in einem langen schwarzen Kleid erwartete uns auf der anderen Seite. Sie verbeugte sich und lächelte.
»Willkommen im Haus von Mr Shan-tung. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise. Kommen Sie bitte hier entlang? Ich zeige Ihnen Ihre Zimmer. Mr Shan-tung erwartet Sie um acht Uhr zum Abendessen.«
Es ist eins der schönsten Häuser, die ich jemals gesehen habe. Alles ist sehr schlicht, aber irgendwie so angeordnet, dass es die größte Wirkung erzielt, wie zum Beispiel eine einzelne Vase auf einem Bord, beleuchtet von einem Punktstrahler, wodurch man sofort erkennt, dass es Ming oder sonst etwas sein muss und dass das Ding vermutlich ein paar Millionen wert ist. Die Fußböden bestehen aus poliertem Holz, die Decken sind unglaublich hoch und die Wände strahlend weiß. Auf dem Weg nach oben kamen wir an Bildern chinesischer Künstler vorbei. Auch sie sind sehr schlicht und wahrscheinlich ebenfalls unbezahlbar.
Wir bekamen Zimmer mit Blick in den Garten. Jamie und ich teilen uns eines und Richard hat ein eigenes. Die Betten waren schon aufgeschlagen und das Bettzeug sieht nagelneu aus. Es gibt einen Fernseher und einen Kühlschrank mit Cola und verschiedenen Säften. Es ist ein Luxus wie in einem Fünfsternehotel, allerdings (wie Richard bemerkte) hoffentlich ohne die Rechnung.
Nach der langen Reise waren wir alle verschwitzt und müde und Jamie und ich warfen eine Münze, um auszuknobeln, wer zuerst duschen durfte. Ich gewann und stellte mich in die Kabine, die so groß war, dass man darin hätte schlafen können, und ließ mich aus neun verschiedenen Richtungen mit heißem Wasser beschießen. Es waren sogar Bademäntel für uns bereitgelegt worden. Jamie war nach mir an der Reihe. Er war schon eingeschlafen, bevor er richtig trocken war.
Ich würde auch gern schlafen.
Ich habe viel über die Bibliothek nachgedacht, die ich im Traum besucht habe. Habe ich die richtige Entscheidung getroffen? Ich habe das Buch nicht gelesen und nun wünsche ich mir fast, ich hätte es getan. Ich bin jetzt nur noch eine fünfundvierzigminütige Überfahrt von Hongkong entfernt und habe keine Ahnung, was mich dort erwartet. Das Buch hätte es mir sagen können. Vielleicht hätte es mich davor gewarnt, zu gehen.
Aber es hätte mir auch verraten, wann und wie mein Leben enden wird – und wer will das schon wissen?
Dieser Gedanke erinnert mich an ein Computerspiel, das ich in meiner Zeit in Ipswich gern gespielt habe. Es war eines von diesen Abenteuern, bei denen man verschiedene Aufgaben lösen muss, um weiterzukommen. Kurz nachdem ich Kelvin kennengelernt hatte, hat er mir gezeigt, wie man ein Schummelprogramm herunterlädt. Es hat mir alle Antworten verraten und damit war die Spannung weg. Ich wusste jetzt alles, was ich wissen musste – aber ich habe das Spiel nie wieder gespielt. Verrückt. Ich hatte einfach kein Interesse mehr daran.
Warum hat der Bibliothekar mir das Buch gezeigt? Was wollte er mir damit sagen? Und davon mal ganz abgesehen – wer war er überhaupt? Er hat mir nicht einmal seinen Namen genannt. Wenn ich darüber nachdenke, macht mich die Traumwelt echt wütend. Eigentlich soll sie uns helfen, aber das
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