Hoellenpforte
Richard.
Shan-tung beugte sich vor und pflückte eine Garnele aus einer der Schalen. Trotz seiner großen Hände setzte er die Stäbchen sehr gezielt ein, beinahe wie ein Wissenschaftler, der ein empfindliches Objekt handhabt. »Ich weiß eine ganze Menge über das Mädchen«, antwortete er. »Tatsache ist, dass sie gestern noch in der Obhut meiner Leute war. Ich habe eine Menge Zeit und Geld - und Menschenleben – investiert, um sie aus Hongkong fortzuschaffen.«
Matt sah seine Befürchtungen bestätigt. »Die Alten sind in Hongkong«, sagte er.
»Die Alten haben Hongkong übernommen«, korrigierte Shantung. »Sie kontrollieren nahezu jeden Bereich des öffentlichen Lebens, von der Regierung über die Polizei bis hin zu den Straßenfegern. Ich weiß nicht, wie viele Leute sie schon getötet haben, aber die Zahlen müssen in die Tausende gehen. Meine Leute bekämpfen sie für euch. Sie sind der einzig existierende Widerstand.«
»Wer sind Ihre Leute?«, fragte Richard.
Shan-tung seufzte. »Es ist nicht nötig, mir Fragen zu stellen. Ich werde es ohnehin erzählen.«
»Es tut mir leid.« Richard erkannte seinen Fehler. »Ich fürchte, das ist eine Gewohnheit von mir. Ich war einmal Journalist.«
»Ich mag keine Journalisten. Das ist nichts Persönliches, aber sie haben mir in der Vergangenheit schon ziemlichen Ärger gemacht. Ich schlage vor, dass Sie weiteressen, und ich erzähle Ihnen, was Sie wissen müssen.«
Han Shan-tung hatte kaum etwas gegessen, doch jetzt legte er die Stäbchen hin und begann zu sprechen.
»Mir wurde die beträchtliche Ehre zuteil, Mitglied einer Organisation zu werden, die Pah Lien genannt wird. Übersetzt bedeutet das ›Weiße-Lotus-Gesellschaft‹. Vielleicht ist Ihnen der Hinweis aufgefallen, den ich Ihnen am Flughafen gegeben habe. Der Mann, der Sie abgeholt hat, hatte einen Strauß Lilien dabei.
Die Lilie gehört zur Familie der Lotusgewächse. Meine Gesellschaft ist sehr alt. Sie wurde im vierten Jahrhundert gegründet, um sich den ausländischen Eindringlingen entgegenzustellen, die Sie als Mongolen kennen und die damals in China herrschten. Die Zielsetzung des Weißen Lotus hat sich in den folgenden vier Jahrhunderten nicht geändert. Seine Aufgabe war es, das chinesische Volk bei seinem Kampf gegen Tyrannei und Unterdrückung zu unterstützen.
Im Laufe der Jahre ist jedoch etwas sehr Interessantes passiert. Die Weiße-Lotus-Gesellschaft hat sich verändert. Für Sie ist die Art dieser Veränderung vermutlich schwer zu verstehen, deshalb werde ich versuchen, sie mit Hilfe einer Figur aus Ihrer eigenen Geschichte zu erklären. Robin Hood ist Ihnen sicher ein Begriff. Er stahl von den Reichen, um es den Armen zu geben. Für die Bauern im Sherwood Forest war er ein Held. Aber für die Behörden war er ein Gesetzloser, ein Krimineller. Wenn sie ihn gekriegt hätten, hätten sie ihn gehängt.
In der Anfangszeit ist die Weiße-Lotus-Gesellschaft nach demselben Prinzip vorgegangen. Ihr Motto lautete: Ta fu – chih p’in. Das bedeutet ›Schlage die Reichen und hilf den Armen‹. Aber im Laufe der Jahre entwickelte der Weiße Lotus eine gewisse Freude an seinen kriminellen Aktivitäten, die zudem äußerst lukrativ waren. Die größten Erfolge erzielte die Gesellschaft im Bereich der organisierten Kriminalität. Sie stahl weiterhin von den Reichen, aber mit zunehmendem Reichtum ihrer Mitglieder wurde immer weniger an die Armen verteilt. Außerdem änderte sich der Name der Organisation, die jetzt ›Gesellschaft der Dreifaltigkeit‹ hieß. Dafür gab es einen Grund. Der Weiße Lotus glaubte, dass die Welt aus drei verschiedenen Teilen bestand: dem Himmel, der Erde und der Menschheit. Deshalb ließen sich ihre Mitglieder ein Dreieck auf den Körper tätowieren. Das Dreieck oder die Triangel erschien auch auf ihrer Fahne. Und schließlich kannte man sie nur noch unter dem Namen Triaden. «
Nach dieser Eröffnung herrschte erst einmal Schweigen am Tisch. Matt hatte von den Triaden gehört, kriminelle Banden, die in ganz Asien operierten. Sie waren Drogenhändler. Außerdem waren sie berüchtigt für Menschenhandel, Prostitution, Erpressung und Mord. Sie folterten oder töteten jeden, der sich ihnen in den Weg stellte. Sie waren genauso brutal wie mächtig. Und dieser Mann gab ganz gelassen zu, dass er einer von ihnen war! Er warf Jamie einen Blick zu. Der amerikanische Junge hörte höflich zu. Was er gerade gehört hatte, schien ihn kein bisschen zu beunruhigen. Richard
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