Hoellenpforte
Mönch zeigte mit einem Finger in Richtung Tür. Der Finger bebte. Aus seinem kranken Auge rann Flüssigkeit wie eine einzelne Träne. »Du hast das Kloster und den Schnee gesehen. Du weißt, dass du nicht mehr in London bist.«
»Sie haben mich unter Drogen gesetzt.«
»Du bist durch die Tür gekommen! Das stand alles in dem Tagebuch. Es gibt fünfundzwanzig solcher Türen auf der ganzen Welt. Sie sind für die Torhüter, die mit ihnen große Strecken in Sekunden zurücklegen können. Nur die Torhüter können sie benutzen. Niemand sonst. Wenn ich durch die Tür gehe, lande ich in einer Sackgasse. Aber bei dir ist das anders. Dich hat sie hergeführt.«
Scarlett schüttelte den Kopf. Nichts von dem, was sie gehört hatte, ergab einen Sinn. Sie wusste nicht einmal, wo sie anfangen sollte. »Ich bin keine zehntausend Jahre alt«, sagte sie. »Sehen Sie mich doch an! Ich bin fünfzehn!«
»Du hast zweimal gelebt, zu verschiedenen Zeiten.« Er lachte freudlos auf. »Das ist nicht zu glauben«, sagte er. »Nach all diesen Jahren einen Torhüter zu treffen und dann festzustellen, dass er keine Ahnung hat, wer oder was er ist.«
»Sie sagten, dass es hier einen Abt gibt«, sagte Scarlett. »Ich möchte mit ihm reden.«
»Pater Janek ist tot.« Er seufzte. »Ich habe dir den Rest meiner Geschichte noch nicht erzählt. Vielleicht wirst du es dann verstehen.« Mit einer Kopfbewegung deutete er auf ihr Glas. »Du hast deinen Tee nicht getrunken.«
»Ich will ihn nicht.«
»Du solltest nehmen, was man dir gibt, solange du es noch kannst, Kind. Dir steht eine schmerzvolle Zukunft bevor.«
Scarletts Tee stand direkt vor ihr. Sie spielte mit dem Gedanken, das Glas zu nehmen und ihm den Inhalt ins Gesicht zu schütten. Aber das würde nichts bringen. Wahrscheinlich war das Zeug mittlerweile nur noch lauwarm.
»Die Entdeckung des Tagebuchs und anderer Texte hat mein Leben verändert«, fuhr der Mönch fort. »Ich begann, über die Gründe nachzudenken, die mich ins Kloster geführt hatten. Glaubte ich wirklich, dass Religion – Gebete und Fasten – mir helfen würden, die Welt zu verändern? Oder benutzte ich die Religion nur, um mich vor ihr zu verstecken? Plötzlich wusste ich, was mich hergeführt hatte. Hass. Ich hasste die Welt. Ich hasste die Menschheit. Und zu Gott zu beten, dass er uns erlöst, ist lächerlich. Gott interessiert sich nicht für uns. Wenn er es täte, sollte man doch meinen, dass er schon vor Jahrhunderten etwas unternommen hätte.
Ich habe mein ganzes Leben an eine Illusion vergeudet. All diese Gebete, die gleichen Worte immer und immer wieder gesprochen. Macht das wirklich Sinn? Natürlich nicht! Die Bitten um Gnade, die nie gewährt wird. Das Knien, das Schlagen des Kreuzes, das Singen von Chorälen, während sich die Menschen draußen auf den Straßen umbringen und versuchen, so viel Geld zu machen, wie sie können, um es dann nur für sich auszugeben, und zur Hölle mit allen anderen. Liest du keine Zeitung? Was steht denn darin außer Mord, Wollust und Gier, Tag für Tag? Erkennst du denn nicht die Natur der Welt, in der du lebst?
Es gibt keinen Gott, Scarlett. Das weiß ich jetzt. Aber es gibt die Alten. Sie sind unsere naturgegebenen Herren. Sie verdienen es, über die Welt zu herrschen, denn die Welt ist genauso böse, wie sie es sind.«
Er verstummte und holte tief Atem. Scarlett sah ihn mit einer Mischung aus Mitleid und Abscheu an. Ihr war bereits klar geworden, dass es hier nicht um Gott oder Religion ging. Es ging um einen Mann, in dem nichts mehr war. Die Jahre hatten Pater Gregory so weit ausgehöhlt, dass nichts mehr übrig war.
»Ich werde meine Geschichte zu Ende erzählen und dann wirst du in deine Zelle zurückgebracht«, sagte er. »Du wirst nicht lange bei uns bleiben, Scarlett. Vor dir liegt eine lange Reise, von der du nicht zurückkehren wirst.«
Scarlett sagte nichts. Sie wusste, dass er versuchte, ihr Angst zu machen. Leider musste sie sich eingestehen, dass es ihm gelang. Eine lange Reise… wohin? Und wie würden sie sie dorthin bringen? Würden sie sie zwingen, durch eine weitere Tür zu gehen?
Pater Gregory schloss ein paar Sekunden lang die Augen, dann sprach er weiter.
»Als ich herkam, gab es vierundzwanzig Brüder im Kloster«, sagte er. »Ich wusste, dass einige genauso empfanden wie ich. Sie waren desillusioniert. Ihr Leben war hart. Es gab keine Belohnungen. Die Dorfbewohner, denen wir halfen, waren nicht einmal dankbar. Nach und nach horchte ich sie
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