Hoellenpforte
Reisetasche lag fertig gepackt auf dem Boden. Sie war nicht groß, denn er nahm nicht viel mit. Wenn er in London etwas brauchte, konnte er es sich dort kaufen.
Matt zog sich schnell aus, wusch sich und schlüpfte ins Bett.
Die letzten paar Monate hatte er auf die einzige Weise nach Scar gesucht, die ihm möglich war – in seinen Träumen. Immer wieder hatte er die Traumwelt besucht. Er war so oft dort gewesen, dass er die Landschaft gut kannte: die Küste eines großen Ozeans, der grau und tot aussah, die Insel, auf der er einst festgesessen hatte.
Die Traumwelt gab ihm Rätsel auf. War sie ein Traum oder war es eine echte Welt? Das war die erste Frage. Und war sie da, um ihm zu helfen oder um ihn zu verwirren? Einerseits machte sie ihm Angst, denn sie brachte merkwürdige und gefährliche Bilder hervor, die er nicht verstand: Riesenschwäne, lebendige Statuen, Schusswaffen und Messer. Aber andererseits hatte Matt nie das Gefühl, dort in Gefahr zu sein. Je öfter er diese Welt besuchte, desto mehr hatte er den Eindruck, dass sie auf seiner Seite war. Er fragte sich, ob dort jemand lebte oder ob sie nur für die Torhüter da war, ihre einzigen Bewohner.
Auf jeden Fall war er fast jede Nacht dorthin zurückgekehrt, aus dem Bett geschwebt, aus dem Zimmer, aus sich selbst.
Dann war er auf die Reise gegangen und hatte nach Scar gesucht. Manchmal konnte er einen Blitz zucken sehen, ein aufziehendes Gewitter. Einmal hatte er Fußspuren gefunden. Ein anderes Mal hatte er eine Baumgruppe entdeckt, was zumindest bewies, dass die Landschaft nicht vollkommen tot war, sondern dass hier Dinge wachsen konnten.
Aber Scar hatte er nie gefunden.
In dieser Nacht war es sinnlos, nach ihr zu suchen. In vierundzwanzig Stunden würde er sie ohnehin treffen. Dennoch, vielleicht nur aus Gewohnheit, kehrte er in die Traumwelt zurück. Wie gewöhnlich war er allein. Er stieg einen steilen Hügel hinauf, aber es war nicht anstrengender, als in der Ebene zu laufen. Hinter ihm erstreckte sich die unendliche, leere Wildnis. Plötzlich bemerkte er etwas Merkwürdiges. Der Boden unter seinen Füßen hatte sich verändert. Er kniete sich hin und untersuchte ihn. Er wischte den grauen Staub weg, der alles bedeckte. Tatsächlich. Er stand auf einem aus Steinen gepflasterten Pfad. Er konnte die Steine und sogar den Mörtel zwischen ihnen genau erkennen. Obwohl er schlief, war er plötzlich ganz aufgeregt. Ein von Menschenhand geschaffener Pfad! Das war etwas ganz Neues und bestätigte, was er schon immer vermutet hatte. Die Traumwelt war bewohnt. Vielleicht gab es hier Gebäude oder sogar ganze Städte.
Er schaute auf. Der Pfad musste irgendwohin führen. Vielleicht war etwas auf der anderen Seite des Hügels.
Aber das würde er nicht erfahren – wenigstens nicht gleich. Er war plötzlich wach. Jemand schüttelte ihn und rief seinen Namen. Er machte die Augen auf. Es war Richard.
»Wach auf, Matt«, sagte er. »Draußen ist jemand.«
DER MANN AUS LIMA
Matt sprang aus dem Bett, streifte Shorts und ein T-Shirt über und rannte barfuß nach unten. Das ganze Haus war wach. Überall brannte Licht und die Alarmanlage wies sie mit ihrem schrillen Ton darauf hin, dass sich jemand näherte.
Matt war bereits der Gedanke gekommen, dass diese nächtliche Störung mit der Tatsache zu tun haben musste, dass Scarlett gefunden worden war. Jetzt, wo sich alle fünf Torhüter kannten, waren sie eine größere Gefahr für die Alten und es war kein Wunder, dass sie darauf reagierten. Damit war genau das eingetreten, was er und Richard befürchtet hatten. Es konnte natürlich ein Fehlalarm sein. Von denen hatte es in den vergangenen vier Monaten genug gegeben. Manchmal waren es Kinder aus dem Ort gewesen, die nach etwas zum Essen oder zum Stehlen gesucht hatten. Die Professorin hielt Lamas wegen der Wolle, vielleicht war eines davon ausgebrochen. Das Alarmsystem war sehr empfindlich. Schon eine Fledermaus oder eine große Motte konnten es auslösen.
Matt eilte ins Wohnzimmer. Auf einem Tisch in der Ecke stand ein Computer, der mit dem Radar auf dem Dach verbunden war und sich bereits von selbst angeschaltet hatte. Er zeigte einen einzelnen blinkenden Lichtpunkt, der sich langsam und zielstrebig in Richtung Haustür bewegte. Es war schon nach zwölf. Etwas spät für einen Besuch.
Jamie und Scott kamen nach unten, vollständig angezogen. Pedro folgte ihnen. Er gähnte und zog sich ein T-Shirt über den Kopf. Joanna Chambers war vor allen anderen
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