Höllensog
erlebten sie auch dort eine Veränderung, vielleicht kam sie sogar aus dieser Richtung. Bisher hatte sich die andere Welt oder Dimension zurückgehalten, das konnte sich ändern, und da hatten es Gregor und ich besser als unsere Freunde, die sich auf dem Wasser befanden, das bekanntlich ja keine Balken hat.
Beide hörten wir das leise Rauschen.
Nur war kein Wind vorhanden.
Gregor trat einen Schritt zur Seite. Er sah angespannt aus. »Hast du es vernommen, John?«
»Natürlich.«
»Es war nicht der Wind – oder?«
»Nein, das war er nicht.«
»Kommt es zurück?«
»Wart’s ab.«
Wir standen mitten auf der Straße. Die Stille wurde allmählich beklemmend. Selbst die Fliegen umsummten uns nicht mehr. Sie hatten sich ebenfalls zurückgezogen.
Wieder hörten wir ein Geräusch. Diesmal war es kein Rauschen, sondern etwas anderes. Mit einigem guten Willen ließ ich es als Flüstern durchgehen.
Stimmen!
Das Wort floß auch über die Lippen des Jungen. Er hatte dabei seinen Oberkörper zurückgedrückt, die Arme ebenfalls nach hinten gelegt und die Hände zu Fäusten geballt. Die Augen waren weit geöffnet, zudem leicht verdreht, und er nickte.
»Was hast du, Gregor?«
»Hör doch! Hör doch!« stieß er hervor. »Hör genau hin, John! Da ist etwas.«
»Und…?«
»Warte! Warte…«
Es blieb mir nichts anderes übrig, ich mußte dem Jungen zustimmen. Da war tatsächlich etwas um uns herum, das sich allerdings im Unsichtbaren verborgen hielt. Trotz der Hitze bekam ich einen kalten Schauer, der wie Eisgrieben über meinen Rücken floß.
Stimmen!
Flüsternde, gehauchte, gewisperte Stimmen, die uns umgaben, die wie eine Wolke waren, aus der sie immer wieder hoch vorstießen. Ich verstand sie nicht, denn meine Ohren trafen eine fremde Sprache.
Dafür hörte Gregor um so besser zu. »Vater!« rief er. »Es ist mein Vater! Es ist auch meine Mutter! Ich kann sie verstehen. Ich… ich… kann sie verstehen…«
***
Es war unwahrscheinlich, schaurig und auch faszinierend zugleich, wie der junge Gregor auf dem Fleck stand, den Kopf in den Nacken gedrückt, die Augen gegen den Himmel gerichtet, aus dem wohl die Stimmen an sein Ohr drangen. Sehen konnte er nichts, nur hören. Die Arme hatte er halb in die Höhe gestreckt, die Hände gespreizt, als könnte er auf diese Art und Weise die Stimmen festhalten oder die dazugehörigen Körper herausfiltern. Er hörte zu.
Er verstand nichts, sein Gesicht zeigte einen gequälten Ausdruck, und er stöhnte mit offenem Mund. Tränen liefen über die Wangen. Er rief die Namen seiner Eltern, er flehte um eine Botschaft, um eine Meldung aus dem Geisterreich, und er bat sie auch, sich zu zeigen.
Sie blieben verschwunden.
Das Wispern und Flüstern schwoll an, ebbte wieder ab, und es bewies mir, daß nicht nur zwei Personen dabei waren, sich aus dem Totenreich zu melden, das mußten einfach mehrere Geister sein, die sich zu einem Chor zusammengefunden hatten.
Oder waren es keine Geister?
Ich hatte keine Ahnung, ich wußte gar nichts mehr, ich mußte es einfach hinnehmen.
Und dann waren sie verschwunden. Als wäre ein Windstoß gekommen, der sie zur Seite geweht hätte. Nicht weit von mir entfernt sank der Junge in die Knie, streckte die Arme aus und stützte die Hände gegen den Boden. Er sah aus wie jemand, der sich in die Erde hinein verkriechen wollte, und er sprach dabei mit sich selbst. Immer wieder redete er davon, daß sie hier waren, daß er sie gehört hatte, daß sie mit ihm gesprochen hatten. Er ließ sich einfach nicht beirren und war auch mit seinen Gedanken nicht da. Er ließ alles mit sich geschehen. Ich sah es am besten an, wenn wir wieder zurück in das Haus gingen. Dort konnte er sich erholen und mir bestimmt auch einige Fragen beantworten.
Im Haus drückte ich ihn auf einem Stuhl nieder. Dort blieb er hocken und starrte ins Leere. Ich suchte nach einem Getränk, kein Wasser, diesmal mußte es etwas sein, das ihn aus seinem Zustand hervorholte. In einem Schrank fand ich eine Flasche mit einer hellen Flüssigkeit darin.
Ich zog den Korken hervor, roch und wußte Bescheid, daß es sich dabei um Wodka handelte.
Ein Glas fand ich ebenfalls. Ich schenkte ein und reichte es Gregor. Er keuchte und schüttelte sich nach dem ersten Schluck, deshalb nahm ich ihm das Glas wieder weg. »Geht’s jetzt besser?«
»Ein bißchen.«
»Das ist gut.«
Gregor hustete. »Das war Vaters Wodka!«
»Aber er tat gut – oder?«
»Ja…« Nach einer Pause schüttelte er den
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