Hoellentrip
»Bleib, wo du bist!«
»Aber …«
»Kein Aber! Du bewegst dich nicht, hast du verstanden? Du bleibst, wo du bist.«
Wenn wir dem Hai als Mittagessen dienen, muss Mark nicht der Nachtisch sein.
»Das gilt auch für dich!«, rufe ich Carrie zu.
Sie ist bereits so nah, dass ich die Angst in ihren Augen sehe. Ich bin sicher, meine Augen sehen genauso aus wie ihre: Pupillen wie kleine, schwarze Stecknadeln.
Ich packe Ernie an seiner Rettungsweste und ziehe ihn so nah an mich heran, dass sich unsere Nasen berühren. Mein gebrochenes Bein pulsiert, aber das ist mir im Moment egal. »Wir gehen folgendermaßen vor«, beginne ich. »Du holst Onkel Jake und schwimmst mit ihm hinter mich.«
Ich muss eine Pause einlegen, weil Tränen an Ernies Pausbacken hinunterlaufen.
»Mom«, ist alles, was er sagen kann. »Mom.«
»Pst, es wird alles wieder gut«, flüstere ich. »Du musst mir jetzt gut zuhören, das ist wichtig.« Ich hole Luft und fahre fort: »Wenn der Hai mich angreift, versuchst du nicht, mir zu helfen. Hast du das verstanden?«
Ich weiß, er hat es nicht verstanden. Wie kann ein Kind so etwas verstehen? Er starrt mich verdutzt an.
»Hör zu, Ernie. Versuch nicht zu helfen! Du schwimmst zu deinem Bruder, so schnell du kannst, ja?«
»Was ist mit Onkel Jake?«, fragt er mit zitternder Stimme.
Diese Frage habe ich befürchtet.
»Du lässt ihn hier bei mir. Du konzentrierst dich nur darauf, so schnell wegzuschwimmen, wie du kannst. Jetzt sag mir, dass du das verstanden hast.«
Er möchte nicht antworten.
»Sag es mir!«, muss ich schließlich rufen. Ich kann nicht anders, ich liebe ihn viel zu sehr. Ich darf nicht zulassen, dass er mit mir zusammen stirbt.
Endlich nickt er, und gemeinsam mit ihm ziehe ich Jake hinter mich. Ernie kann vor Angst schon nicht mehr weinen. Er verfällt in Schweigen. Das tun wir alle. Nur das plätschernde Wasser ist zu hören.
Schwapp-schwapp.
Schwapp-schwapp.
Gebannt starre ich auf die Flosse, die auf mich zukommt, und nehme den tiefsten Atemzug meines Lebens.
Trotz aller Widrigkeiten hoffe ich, dass es nicht mein letzter ist.
51
Carrie ließ den Blick ihrer blauen Augen von einer Seite zur anderen übers Wasser schnellen. Vom Hai über ihre
Mutter zu ihren Brüdern und Onkel Jake. Und wieder zu diesem verdammten Hai. Warum verschwand er nicht einfach? Spürte er, wie wehrlos sie waren? Natürlich tat er das, er war ein Beutejäger.
Sie fühlte sich hilflos, wie in der Schwebe. Es musste doch etwas geben, das sie tun konnte. Aber was?
Da traf es sie wie ein Schlag – sprichwörtlich.
Die Ave-Maria-Kiste.
Sie hatte nicht gemerkt, dass sie sie losgelassen hatte, bis eine kleine Welle sie gegen ihren Kopf knallen ließ.
Später würde es sicherlich einen kräftigeren Schlag geben. Wenn es ein Später gab.
Was zählte, war das Jetzt. Befand sich etwas in der Kiste, das helfen konnte?
Mit einem hektischen Energieschub ließ Carrie das Schloss aufschnappen. Nachdem sie den Deckel zurückgeschlagen hatte, versuchte sie, sich nach oben zu drücken, um hineinschauen zu können.
Was nur zur Hälfte funktionierte. Sie erblickte einige Dinge: einen Erste-Hilfe-Kasten, einige Decken, ein aufblasbares Floß. Doch auch wenn sie den Rand der Kiste bis zur Wasseroberfläche neigte, konnte sie nicht erkennen, was unter diesen Sachen lag.
Verdammt, ich werfe einfach alles nach draußen, dachte sie.
Doch sie besann sich eines anderen. Was, wenn die Sachen nicht oben schwammen und gerade etwas Nützliches sank, bevor sie danach greifen konnte?
Sie hatte ja keine Ahnung, was sich alles in der Kiste befand, also versuchte sie lieber, ihren Arm tief hineinzuschieben und umherzutasten.
Komm schon! Da muss doch etwas sein …
Verzweifelt fasste sie einen Gegenstand nach dem anderen an. War das eine Flasche Wasser? Eine Taschenlampe?
Sie blickte über ihre Schulter nach hinten, während sie weitersuchte. Der Hai war keine dreißig Meter von ihrer Mutter und Ernie entfernt.
Beeil dich!
Carrie bewegte ihre Hand blind von einem Gegenstand zum anderen. Plötzlich stießen ihre Fingerspitzen mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden der Kiste. Verdammt!
Nichts.
Tränen der Enttäuschung traten in ihre Augen, bis sie in der hinteren Ecke auf einmal etwas spürte. Etwas Kaltes. Metall.
Es war eine Waffe!
Dessen war sie sich ziemlich sicher. An der sanften Kurve des Abzughahns erkannte sie sie.
Sie zog so fest, wie sie konnte. Und hielt die Waffe in der Hand. Allerdings hatte sie
Weitere Kostenlose Bücher