Höllische Versuchung
wunderbar sprechen können. Wäre er wach geblieben, hätte ich längst alles von ihm erfahren. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ich im Falle eines Angriffs auch noch einen bewusstlosen Mann zu verteidigen hatte, der mindestens vierzig Kilo schwerer war als ich. Was sollte ich eigentlich jetzt mit ihm anfangen? Erwartete er etwa, dass ich ihn seufzend mit den Augen vernaschen würde? Oder sollte ich seine Bewusstlosigkeit gar schamlos ausnutzen?
Ich holte einen Edding aus dem Handschuhfach und entschied mich, dass die Situation schamlos auszunutzen genau das Richtige war.
Eine Stunde später reckte Raphael sich und schlug die Augen auf. Er verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Hi. Welch bezaubernder Anblick beim Aufwachen.«
Ich richtete meine SIG Sauer auf ihn. »Sag mir auf der Stelle, warum dieses niedliche Hündchen hinter dir her war.«
Er zog die Nase kraus und fasste sich an die Lippen. »Habe ich irgendwas am Mund?«
Ja, hast du. »Raphael, reiß dich zusammen! Ich weiß, es fällt dir schwer, aber bleib jetzt bitte mal bei der Sache. Erklär mir das mit diesem Hund.«
Er leckte sich mit der Zunge über die Lippen und meine Gedanken drifteten ab. Reiß dich zusammen, Andrea! Bleib jetzt bitte mal bei der Sache.
Raphael besann sich wieder auf seine Coolheit, lehnte sich lässig zurück und präsentierte mir seine atemberaubende Brust. »Das ist nicht so leicht zu erklären.«
»Versuch’s einfach. Zunächst einmal möchte ich wissen, was du hier überhaupt machst. Solltest du nicht eigentlich Steine schleppen?« Vor ungefähr sechs Wochen hatten wir an den Midnight Games teilgenommen, einem illegalen Turnier, bei dem auf Leben und Tod gekämpft wurde. (Aus diesem Grund musste Kate sich nun auch auskurieren.) Damit hatten wir einen Krieg gegen das Rudel zu verhindern versucht. Sowohl der Orden als auch Curran waren zunächst gegen unseren Plan gewesen. Der Herr der Bestien hatte sich uns letztendlich aber doch angeschlossen und anschließend sich selbst und den Rest der beteiligten Gestaltwandler zu mehreren Wochen harter Arbeit verdonnert, die darin bestand, der Festung des Rudels noch einen Anbau hinzuzufügen.
»Curran hat mir wegen eines Trauerfalls in der Familie freigegeben«, sagte Raphael.
Gar nicht gut. »Was ist denn geschehen?«
»Der Gefährte meiner Mutter ist gestorben.«
Mein Herz setzte einen Schlag lang aus. Tante B war … sie war nett. Sie hatte mir schon einmal das Leben gerettet und mein Geheimnis für sich behalten. Ich stand tief in ihrer Schuld. Und selbst, wenn es nicht so wäre, empfand ich ihr gegenüber großen Respekt. Wie bei ihren Artgenossen in der freien Wildbahn führten bei den Boudas die Weibchen das Rudel an. Sie waren aggressiver, grausamer und durchsetzungsfreudiger. Tante B besaß all diese Eigenschaften, aber zudem war sie noch gütig, klug und duldete keine Sperenzchen. Und als Alpha eines Bouda-Clans hatte sie damit ständig zu tun.
Wäre ich bei Tante B aufgewachsen statt bei den Weibchen meines Clans, wäre ich vielleicht nicht so gestört.
»Das tut mir wirklich leid.«
»Danke«, sagte Raphael und wich meinem Blick aus.
»Wie geht es ihr?«
»Nicht so gut. Er war ein prima Kerl. Ich mochte ihn.«
»Was ist passiert?«
»Herzinfarkt. Ging alles ganz schnell.«
Gestaltwandler starben so gut wie nie an Herzversagen. »War er ein Mensch?«
Raphael nickte. »Sie waren schon seit fast zehn Jahren zusammen. Sie hat ihn kurz nach Vaters Tod kennengelernt. Die Trauerfeier war für Freitag anberaumt, doch irgendjemand hat den Leichnam aus dem Bestattungsinstitut gestohlen.« Seine Stimme war ein tiefes Knurren. »Meine Mutter hat sich nicht von ihm verabschieden, ihn nicht begraben können.«
Oh, Gott. Ich knirschte mit den Zähnen. »Wer hat die Leiche genommen?«
Raphaels Miene verdüsterte sich. »Keine Ahnung. Aber ich werde es herausfinden.«
»Ich will dabei sein. Ich bin deiner Mutter was schuldig.« Tante B hatte ein Anrecht darauf, ihren Gefährten zu begraben. Oder das, was ihr seinen Leichnam gestohlen hatte. Beides war mir recht.
Angewidert verzog Raphael das Gesicht. »Hast du auch Streichhölzer gerochen?«
Ich nickte. »Der Hund.«
»Ja. Ich habe seine Fährte beim Bestattungsunternehmen aufgenommen und bin ihr bis hierhin gefolgt. Darunter habe ich noch einen weiteren Geruch wahrgenommen, aber der beißende Schwefelgestank übertüncht alles.« Raphael musterte mich.
Ich forderte ihn mit einer Geste auf weiterzusprechen.
Weitere Kostenlose Bücher