Höllische Versuchung
Haus führte, verschlossen, aber Raphael hatte sie in zehn Sekunden geknackt. Innen erwartete uns eine Küche der gehobenen Klasse, brandneu und mit Küchengeräten aus Edelstahl. Die Spüle war wie geleckt. Auch aus dem Küchenabfallzerkleinerer drang kein Fäulnisgeruch.
Die Geruchsspuren waren alt. Lynn war schon seit mindestens zwei Tagen nicht mehr zu Hause gewesen.
»Interessant«, sagte Raphael.
Ich stellte mich neben ihn.
In der Wohnzimmerwand direkt unter einem abstrakten Gemälde befand sich eine riesige Delle. Ringsum war ein großer Fleck auszumachen. Auf dem Boden darunter lagen Scherben, die im Licht, das durch die Fenster hineindrang, schwach glitzerten, dazwischen vertrocknete Stiele. Irgendjemand hatte eine Vase gegen die Wand geworfen.
»Wie groß ist sie?«
»Vielleicht einen halben Kopf größer als ich.«
»Dann hat sie es wohl getan. Ich hätte viel höher getroffen.«
Wir besahen uns den Fleck. »Sie war sauer«, sagte ich.
»Stinksauer.«
»Kein Liebhaber.«
Raphael nickte. »Weiße Blumen.«
Ich holte tief Luft und sortierte im Geist die verschiedenen Düfte: ein Hauch weißer Lilien, Nelken, der süße Duft von Löwenmäulchen, und eine herbe Note Schleierkraut …
»Ein Trauergesteck«, sagten wir beide wie aus einem Mund.
Ich hockte mich hin und fischte durch die Stiele am Boden. Ein feuchtes Stück Papier klebte dazwischen. Ein Kärtchen mit dem Logo einer Schlange, die sich um ein Weinglas wand. Darunter stand: Bright Light Hospital, Thaumatologie, College of Atlanta.
Ich klappte die Karte auf und las sie laut vor: »Es tut mir so leid. Dr. med. Ben Rodney, zertifizierter Heilmagier.«
Raphael beugte sich hinunter und tippte auf das Kärtchen. »Alex war Patient dort. Ich weiß, was das zu bedeuten hat. Wenn sie gar nichts mehr für einen tun können, dann schicken sie dieses Regeln-Sie-Ihre-Angelegenheiten-Gesteck.«
»Sie war also todkrank.«
»Anscheinend schon.«
»Zumindest haben wir jetzt die Verbindung zwischen ihr und Alex«, sagte ich mit einem Blick auf die Karte.
Danach durchstöberten wir das Haus. Im Büro fanden wir einen ganzen Aktenschrank voller Krankenberichte. Bei Spinnen-Lynn wurde das Niemann-Pick-Syndrom Typ A und C festgestellt. Ihre Krankheit war unheilbar mit progressivem Verlauf. Milz, Leber und Gehirn wurden in Mitleidenschaft gezogen. Ihr fiel es schwer, den Blick nach oben und unten zu richten. Sehkraft und Hörvermögen waren am Schwinden. Schon bald wäre sie eine Gefangene ihres eigenen Körpers geworden und dann wäre sie gestorben.
»Sieh dir das an«, rief Raphael.
Ich folgte ihm in die Bibliothek. Aufgeschlagene Bücher lagen auf dem Boden verstreut. Raphael nahm sich eins. »›Und so ergriff Hades Persephone und fuhr mit ihr in seinem Wagen davon, in die Tiefen seines düsteren Schattenreiches. Ihre Mutter, die gütige Demeter, suchte vergeblich nach ihrer Tochter. Wie eine gewöhnliche Sterbliche gekleidet durchstreifte die Göttin der Fruchtbarkeit die Erde und ließ in ihrer Trauer Saat und Ernte verkommen. Ohne ihr segensreiches Wirken verwelkten die Blumen am Stängel, verloren die Bäume vor Schmerz ihre Blätter, verdorrte alles Grüne und Lebendige. Überall in der Welt herrschte Winter und die Menschen jammerten vor Hunger. Selbst die goldenen Äpfel in Heras Garten fielen von den kahlen Ästen des heiligen Baums.‹«
»Sehr erhebend.« Ich schnappte mir ein paar der anderen Bücher. »Das Gleiche.«
»Dieses Buch ist auf Griechisch geschrieben.« Raphael hielt einen verstaubten Schinken hoch und deutete auf eine offene Seite mit einem Apfel.
»Offenbar ist sie völlig besessen von Hades und diesen Äpfeln. Was wissen wir über diese Äpfel?« Ich blätterte das Buch durch.
»Hier ist noch was«, sagte Raphael. »›Eris, die Göttin der Zwietracht, war als Einzige nicht zur Hochzeit von Peleus und Thetis geladen. Still schmollte sie vor sich hin, bis ihr Verlangen nach Rache übergroß wurde und sie einen goldenen Apfel unter die Hochzeitsgesellschaft warf, auf dem die Worte eingeritzt waren: kallistä , der Schönsten . Und so nahm der Trojanische Krieg seinen Lauf … ‹«
»Ziemlich raffiniert, aber das bringt uns auch nicht weiter.« Ich blätterte in meinem Buch. »Hier geht es um die elfte Heldentat des Herakles. Er sollte die goldenen Äpfel der Unsterblichkeit aus Heras Garten stehlen.« Ich hielt inne und sah Raphael an.
»Die Äpfel der Unsterblichkeit«, sagte er. »Sieh mal einer an.«
Ich tippte
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