Hörig (German Edition)
abgebrochen worden war, wunderte ihn nicht angesichts ihrer Verfassung. Erstaunt war er trotzdem, da er angenommen hatte, sie ginge noch zur Schule.
Weniger begeistert war Paul, als Edmund ihm klarmachte, dass er, wenn überhaupt, Patrizia nur helfen konnte, wenn er entschieden mehr über die Hintergründe erfuhr. Widerstrebend erklärte Paul sich bereit, ihm
gewisses Material
zur Verfügung zu stellen.
Tags darauf brachte er zwei Tagebücher in die Praxis, schränkte jedoch ein: «Ich fürchte, viel helfen wird Ihnen das nicht. Sie werden nur feststellen, wie Patrizia war, ehe sie dieses Scheusal traf. Sie war ein ganz normales junges Mädchen. Und plötzlich war sie wie umgedreht. Ich sage Ihnen lieber gleich, Sie werden eine Menge Unsinn lesen.»
«Welche Art von Unsinn?», fragte Edmund.
Paul tat sich schwer, es näher zu erläutern, hielt den Blick zu Boden gerichtet. Er war für Edmund leicht zu durchschauen und einzuordnen: Gehemmt, sexuell verklemmt, genau die Sorte Vater, die eine
entehrte
Tochter zum Gynäkologen schleppte, damit der Urzustand wiederhergestellt wurde. Und auch das konnte ein junges Mädchen schwer traumatisieren, weil die Spuren des Liebsten mit solch einer Aktion so restlos getilgt wurden, als hätte es ihn gar nicht gegeben.
«Dass sie mit Schramm in einem Bett gelegen hätte», sagte Paul endlich. «Der Kerl ist mir nie über die Schwelle gekommen. Das hat sie sich ausgedacht.»
«Vielleicht war sie in seiner Wohnung», entgegnete Edmund. Dass er innerlich triumphierte, sah man ihm nicht an, wähnte er sich doch auf der richtigen Spur.
«Mit Sicherheit nicht», erklärte Paul. «Schramm lebte noch bei seiner Mutter. Und die schwor Stein und Bein, dass er nie eine Frau oder ein Mädchen mitgebracht hätte. Dafür wären auch nur zwei Nachmittage in Frage gekommen. So oft war sie doch gar nicht mit dem Kerl zusammen. Warum sie das geschrieben hat, weiß der Teufel.»
Edmund ging davon aus, dass er es auch bald wüsste. Weil er sich vordringlich ein Bild von der Familie Großmann machen wollte, vor allem von Patrizia, begann er noch am selben Abend mit dem Tagebuch, in dem noch nicht von Heiko Schramm die Rede war. Datiert war kein einziger Eintrag, deshalb fiel es schwer, sich einen zeitlichen Überblick zu verschaffen. Aber eins wurde bald klar: Ein ganz normales Mädchen, wie ihr Vater behauptet hatte, war sie nicht gewesen.
Durchaus intelligent, aber sehr verträumt und naiv. Mit sechzehn hatte ihre Vorstellungswelt noch der eines wesentlich jüngeren Kindes entsprochen. Sie glaubte an Wunder, Gedankenübertragung, Geistererscheinungen und die vierte Dimension. Sie sprach mit Steinen und Bäumen und wünschte sich eine Zeitmaschine, mit deren Hilfe sie gerne kleine Abstecher in die Vergangenheit unternommen hätte. Immer nur für ein paar Minuten, länger wollte sie sich gar nicht aufhalten im Trias, Jura, Paläogen, Neogen und wie die Erdzeitalter sonst noch hießen.
Zwischen solch phantastischen Passagen fand Edmund nur wenige Zeilen, in denen sie sich über reale Ereignisse ausgelassen hatte. Denen konnte er entnehmen, dass sie ein etwas distanziertes Verhältnis zu ihrer Mutter hatte. Was daran liegen mochte, dass die nicht mehr wusste, wie sie sich der jüngeren Tochter gegenüber verhalten sollte, nachdem die älteste die Familie mit einem unehelichen Kind überrascht hatte.
In ihrem Vater sah Patrizia eine Art Herrgott, dessen Wort vorerst noch ungeschriebenes Gesetz war. Nur war Paul beileibe kein gütiger oder gerechter Gott, er strafte sogar ohne Anlass und schoss dabei regelmäßig über ein angebrachtes Maß hinaus. Viel anders war es im Alten Testament ja auch nicht gewesen.
Mit ihrer acht Jahre älteren Schwester verstand sie sich ausgezeichnet, wurde von Dorothea mit guten Ratschlägen und Lebensweisheiten versorgt.
Wie entferne ich Nagellack so von meinen Fingern, dass Papa gar nicht merkt, dass sie lackiert waren.
Sie besuchte eine reine Mädchen-Realschule und hatte keine Schwierigkeiten im Unterricht, war anscheinend bei Lehrern und Mitschülerinnen gleichermaßen beliebt, pflegte jedoch keine Freundschaften, weil sie sich genierte, gleichaltrige Mädchen zu sich nach Hause einzuladen.
Die Atmosphäre im Elternhaus bezeichnete sie als «von vorgestern». Aber nur wenige Textabschnitte klangen nach Unfrieden, und die betrafen ausschließlich Dorothea. Obwohl ihre Schwester nicht mehr daheim wohnte, lag sie in ständigem Streit mit dem Vater und forderte
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