Hörig (German Edition)
schon panischen Angst vor den Folgen. Und dass Heiko Schramm nichts weiter getan hatte, als sich voll und ganz auf ihre Ängste einzustellen und sie für seine Zwecke zu nutzen.
«Er hatte so viel Interesse an deiner Person wie an einem Wetterbericht vom vergangenen Oktober», hatte Ed einmal gesagt.
In den vierzig oder fünfzig Therapieminuten, in denen er über Heiko gesprochen hatte, war das die Wahrheit gewesen. Auf dem Heimweg waren ihr allerdings wieder leise Zweifel gekommen. Vielleicht hatte Heiko sie doch geliebt, sehr sogar, mehr als sich selbst. Und vielleicht hatte er den einzigen Weg gefunden, die Furcht zu umgehen, alle Ängste zu überlisten und den Gefühlen freien Lauf zu lassen.
Ed hatte behauptet, dass ein Mann, der ein Mädchen wirklich liebt, auch irgendwann mit diesem Mädchen schlafen will, der eine früher, der andere später, aber jeder irgendwann. Weil es ganz natürlich war und einfach dazugehörte.
Zuerst hatte sie widersprochen, aber bald aufgegeben, ihn von seinem Irrtum überzeugen zu wollen, ihm auch noch zu erklären, dass es unter Umständen viel reizvoller sein konnte, eine Berührung nur in der Phantasie zu erleben. Weil der Phantasie keine Grenzen gesetzt waren. Weil man alles erleben konnte und nichts fürchten musste. Und dann war alles sehr viel intensiver und lustvoller, dann war es so, wie es in Wirklichkeit niemals sein konnte: vollkommen.
Mit Eddi zu schlafen war jedes Mal schön. Eddi war ein zärtlicher, leidenschaftlicher und phantasievoller Liebhaber. Und er wusste genug über ihre geheimsten Wünsche und Sehnsüchte, um es so perfekt wie möglich zu machen. Aber eben nur so perfekt wie möglich, es reichte nie völlig an ihre Vorstellungen und Gefühle von damals heran. Weil es äußerlich war, weil es sich nicht so im Innern ausbreiten konnte, wie ein Gedanke das tat.
Und Heiko hatte doch mit ihr schlafen wollen. Er hatte einmal gesagt: «Eines Tages, Püppi, wenn wir viel Zeit haben und ein großes Haus, wo uns keiner stört, und ein breites Bett, dann tun wir es richtig. Dann tun wir es die ganze Nacht, hören Musik dabei, trinken Sekt, nein, Champagner. Und wir bewegen uns ganz langsam, bis wir denken, dass wir verrückt werden.»
Dieser Tag war nur nie gekommen.
In den vergangenen Jahren war vieles verblasst und beinahe unwirklich geworden. Jetzt überschwemmte es sie wieder: die hoffnungsvollen, fast unbeschwerten ersten Tage, an denen Heiko sie abends an der Bushaltestelle in Raderthal abgeholt hatte. Und der demütigende Freitagabend, an dem ihr Vater sie auf offener Straße mit Vorwürfen überschüttete und mit Schimpfworten bedachte, die sie aus seinem Mund nicht erwartet hatte.
Gerissenes Luder
nannte er sie und erklärte: «Du bist moralisch genauso verkommen wie deine Schwester. Was denkt ihr euch eigentlich, wenn ihr euch mit solchen Lumpen einlasst, die nur ihren Spaß im Kopf haben und Verantwortung nicht einmal buchstabieren können? Seid ihr zu blöd, um zu begreifen, dass ihr mit offenen Augen in euer Unglück rennt?»
«Dorothea ist nicht unglücklich», wagte sie zu widersprechen.
«Und du wirst das auch nicht», sagte er. «Dafür sorge ich. Du wirst diesen Kerl nicht wiedersehen. Ich schätze, dass er sich in den nächsten beiden Wochen etwas Neues sucht.»
Nach einem trostlosen Wochenende, an dem sie sich vergebens darum bemühte, ihre Schwester als Botschafterin einzusetzen, holte Paul sie montags bei Retlings ab. Sie fuhren an der Bushaltestelle vorbei. Und sie sah Heikos Auto dort stehen. Heiko war ausgestiegen, um im Freien auf sie zu warten. Leider schenkte er dem vorbeifahrenden Verkehr keine Beachtung, er schaute nur in die Richtung, aus der sie in der vergangenen Woche jeden Abend gekommen war.
Paul sah ihn ebenfalls und lachte gehässig. «Da kannst du noch lange stehen, Freundchen. Das war’s für dich. An meiner Tochter wirst du dich nicht vergreifen.»
Er rechnete kaum damit, dass ein junger Mann ohne zwingenden Grund morgens um halb sechs aus den Federn fand, um Patrizia eine halbe Stunde später in die Arme nehmen zu können. Aber dafür wäre Heiko auch um vier in der Frühe aufgestanden. Zum Glück hatte sie ihm erzählt, um welche Zeit und mit welchen Verkehrsmitteln sie zur Arbeit fuhr.
Am Mittwochmorgen wusste Heiko bereits, dass sie sich nicht freiwillig von ihm fernhielt. Da kam er zum Bahnhof nach Ehrenfeld und erwartete sie am Bahnsteig. Sein Auto hatte er irgendwo in Bahnhofsnähe geparkt, aber das ließ
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