Hörig (German Edition)
eigene Hilflosigkeit, Ratlosigkeit und Sorge, die ihm so zusetzten.
In der Einfahrt stand ein blauer Twingo, der ihn ein wenig aufrichtete. Dorothea war da, die immer praktisch denkende Dorothea mit ihren teils erschreckend radikalen, teils zärtlich zerbrechlichen Ansichten vom Leben. Die rabiate Dorothea, die Pauls Hemmungen und Komplexe einfach ignorierte, die früher sogar versucht hatte, sie auf ihre Weise zu bekämpfen.
Patrizia hatte einmal erzählt, dass Dorothea sonntags häufig in Unterwäsche am Frühstückstisch erschienen war und die Wutausbrüche ihres Vaters mit einem amüsierten «Jetzt hab dich doch nicht so, Paulchen, ich bin nicht nackt und will dich auch nicht verführen» pariert hatte.
Ihre Tochter Melanie öffnete ihm die Haustür, freute sich, ihn zu sehen, und spähte erwartungsvoll an ihm vorbei zur Straße. «Hey, Eddi, bist du allein?» Das klang ein wenig enttäuscht. Das Kind liebte Patrizia abgöttisch.
Edmund nickte und rang sich ein Lächeln ab. Er mochte Melanie, aber in dem Moment wäre es ihm lieber gewesen, sie hätte in Köln unter Aufsicht der älteren Nachbarin über Schularbeiten gesessen, als ihm hier die nächste Frage zu stellen: «Wo ist denn Patty?»
«Nicht da», sprach Edmund aus, was offensichtlich war.
Er ließ Melanie stehen und ging zum Wohnzimmer hinüber. Schwägerin und Schwiegervater schauten ihm entgegen, Dorothea neugierig, sie saß in einem Sessel nahe der Tür und studierte die Daten der letzten Tage im Blutdruckmessgerät. Paul maß seinen Blutdruck selbst – regelmäßig dreimal täglich.
Er lag auf der Couch und schaute leidend drein. Und obwohl es alles andere als kühl im Zimmer war, war er bis zur Taille in eine beigefarbene Decke gehüllt. Mit einem vernehmlichen Ächzen kam Paul in die Höhe. Seine Stimme klang, als läge er in den letzten Zügen: «Ed, das finde ich aber nett, dass du vorbeischaust. Hast du einen sechsten Sinn?»
Bevor sein Schwiegervater die Leidensgeschichte der letzten Stunden auch nur andeuten konnte, zog Edmund den Zeitungsfetzen aus der Tasche. Er hielt ihn so, dass Dorothea und Paul zumindest ahnen konnten, was er ihnen entgegenstreckte, und erklärte knapp: «Das fand ich, als ich heimkam. Schramm war da. Er hat sie geholt. Bei der Polizei war ich schon. Aber die tun nichts.»
Damit setzte er sich erschöpft und verzweifelt in den zweiten Sessel. Dorothea betrachtete ihn mit ungläubiger Miene. Paul begann abwehrend den Kopf zu schütteln. Melanie, die Edmund gefolgt war, stand bei der Tür und schaute fragend von einem zum anderen. «Wer ist Schramm? Wen hat er geholt?»
Entgegen ihrer Gewohnheit, ihrer Tochter alles umfassend zu erklären und jede noch so bedeutungslose Frage zu beantworten, forderte Dorothea: «Geh in die Küche und mach einen starken Kaffee für Eddi. Das kannst du doch.»
Dann verlangte sie von Edmund: «Sag das noch mal.»
Er reichte ihr stattdessen den vergilbten Ausschnitt und wies sie auf die Randnotiz hin. Melanie rührte sich nicht vom Fleck und verrenkte sich den Hals beim Versuch, etwas zu erkennen. Paul vergaß, dass er soeben noch dem Tode nahe gewesen war, und donnerte los: «Hab ich es nicht immer gesagt! Wenn dieses Schwein noch einmal auftaucht, geht das ganze Theater von vorne los. Dann gebe ich einen Dreck auf jede Behandlung.»
Vielleicht hatte Paul das früher mal gedacht, gesagt hatte er es nie. Es traf Edmund auch an keiner empfindlichen Stelle, dafür kannte er seinen Schwiegervater zu gut. Er atmete tief durch und schaute Paul an. «Ich brauche die Unterlagen noch einmal. Die Gerichtsakten.»
«Was willst du denn damit?», fragte Paul verständnislos.
«Die Adresse von Schramms Mutter», sagte Edmund. «Ich habe sie zwar mehr als einmal gelesen, aber das ist einige Jahre her. Ich erinnere mich nicht mehr. Und ich nehme an, er ist wieder bei ihr untergekrochen.»
«Ich weiß gar nicht, ob ich die noch habe», sagte Paul. «Da müsste ich mal nachschauen.» Eilig hatte er es damit nicht, zumindest machte er keine Anstalten, von der Couch aufzustehen.
Dorothea erhob sich und ging in den Flur. Im Vorbeigehen griff sie nach den Schultern ihrer Tochter und schob Melanie ein Stück vor sich her Richtung Küche. «Kaffee machen», sagte sie dabei, «und zwar schön stark. Ich brauche auch einen. Und Opa gibst du einen Cognac.»
Sekunden später tauchte sie mit ihrem Smartphone neben Edmund auf und erklärte: «Mama hat die Akten letztes Jahr verbrannt. Aber die würden
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