Hörig (German Edition)
Und es wurde allerhöchste Zeit, dass sie das auch begriff. Höchste Zeit für ihn selbst.
Nicht nur ihre Naivität faszinierte ihn. Sie nahm an Gewicht zu, das schmale Gesicht rundete sich. Die Finger wirkten nicht mehr knochig, nur noch schlank. Ihr Körper profitierte noch mehr von den Pfunden. Wenn sie ihm gegenübersaß, wirkte sie nicht mehr wie ein Knochengerüst im dicken Pullover.
Im Frühjahr war sie schon fast wieder so, wie sie vor der Zeit mit Schramm gewesen war, ein bildhübscher Teenager, der ohne Hemmungen und ohne falsche Scham berichten konnte, wie das daheim gewesen war, früher und jetzt auch noch. Dass Dorothea die Einzige war, mit der sie über alles hatte reden können. Dass Dorothea sie immer verstanden und häufig gute Ratschläge erteilt hatte. Sogar über Verhütungsmittel hatten sie gesprochen, und Dorothea hatte ihr erklärt, wie man damit umging.
«Unsere Eltern waren schon immer sehr verklemmt», sagte sie. «Ich habe nie gesehen, dass sie sich mal geküsst hätten. Als Dorothea schwanger wurde und nicht heiraten wollte, wurde es noch schlimmer. Ich durfte nicht mal mehr über Jungs reden, das war schon unanständig. Meine Mutter schenkte mir ein Tagebuch und sagte, darin könnte ich alles aufschreiben, was mir wichtig wäre. Dann hat sie es gelesen und meinem Vater alles erzählt. Einmal saß ich noch spät in der Badewanne, da ging die Glühbirne kaputt, und ich saß im Dunkeln. Ich habe meinen Vater gerufen. Er kam auch sofort und hat die Birne ausgewechselt. Dabei hat er mir die ganze Zeit den Rücken zugedreht. Er war krebsrot im Gesicht, das konnte ich im Spiegel sehen, als das Licht wieder anging. Aber er war doch mein Vater. Er musste sich doch nicht schämen, dass er zu mir ins Badezimmer kam.»
Sie hatte Paul gefragt, warum es ihm peinlich sei. Eine Antwort hatte sie nicht bekommen, nur eine grobe Zurechtweisung. Und danach hatte Paul sie nie wieder in den Arm genommen. Sie durfte abends auf der Couch nicht mehr dicht bei ihm sitzen. Dabei war sie vorher Papas Liebling gewesen, nach Dorotheas Auszug aus dem Elternhaus sogar Papas Einzige. Dann wurde sie eben Schramms Liebling und seine Einzige. Und das war besser, das war perfekt.
Im Frühjahr war sie bereits so weit, dass sie alleine in die Praxis kam. Und einmal war sie am Bahnhof Ehrenfeld absichtlich in die falsche Straßenbahn gestiegen, hatte einen kleinen Umweg gemacht. Es war ein recht warmer Tag. Sie trug einen Minirock und eine kurzärmelige Bluse mit Streublümchen. Keine Strümpfe, ihre nackten Füße steckten in offenen Sandalen. Wie der personifizierte Frühling wehte sie zu Edmund ins Sprechzimmer.
Sie war fast zehn Minuten später dran als sonst, entschuldigte sich aber nicht etwa, sondern sagte: «Ich bin extra eine Stunde früher von daheim los. Leider hatte die Bahn Verspätung.»
Dann kam ein zusammenhangloses: «Wir sind früher immer mit der Bahn gefahren.» Bereits an ihrem sehnsüchtigen Unterton erkannte Edmund, wovon sie sprach.
Sie lächelte verlegen. «Ich hoffe, Sie sind nicht böse, weil ich zu spät komme. Ich musste es einfach versuchen.» Dann strahlte sie ihn an. «Und es hat funktioniert.»
Während sie langsam zu ihrem Sessel ging, sich hinsetzte und die nackten Beine übereinanderschlug, erklärte sie: «Heiko wird immer stärker. Er war bei mir, eben in der Straßenbahn. Richtig bei mir, nicht nur sein Astralleib wie nachts. Ich konnte ihn fühlen und berühren. Er hat mich im Arm gehalten, wir haben miteinander gesprochen.»
Darauf folgte das leicht zerknirschte Geständnis: «Die Bahn hatte gar keine Verspätung, das habe ich nur gesagt. Ich bin eine Station zu weit gefahren, weil ich nicht rechtzeitig aussteigen konnte, wo ich so lange darauf gewartet habe. Ich habe ihn doch so vermisst.»
«Das verstehe ich jetzt nicht», sagte Edmund. «Er ist doch jede Nacht bei Ihnen.»
«Ja, aber nur astral», erklärte sie. «Das ist ein großer Unterschied, ob ich nur seine Berührungen fühle oder ob ich ihn auch selber berühren und mit ihm reden kann.»
«Ach so», sagte Edmund und unterdrückte ein Schmunzeln, weil er sich unwillkürlich fragte, was die Leute in der Straßenbahn gedacht haben mochten, die Zeuge ihrer Unterhaltung mit Schramm geworden waren.
Eine Verrückte, die Selbstgespräche führt.
Er ließ sie reden, wie er es immer tat, fünf Minuten, zehn Minuten, eine Viertelstunde. Sie beschrieb in allen Einzelheiten, wie die Fahrt gewesen war. Heiko leibhaftig neben
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