Hörig (German Edition)
ihr, obwohl er nicht aus dem Gefängnis ausgebrochen war und niemand außer ihr ihn wahrnehmen konnte. Sein Arm um ihre Schultern, seine Hand auf ihrem Oberarm, die andere Hand auf ihrem Schenkel, sein Flüstern an ihrem Ohr.
Sie steigerte sich mehr und mehr in ihre Schilderung hinein. Aber Edmund unterbrach sie nicht. Selbst dann nicht, als sie ihm erzählte, sie sei gar nicht mehr wirklich im Sprechzimmer seiner Praxis, sie sei gerade in einem großen, hellen Raum, in dem ein breites Bett stand. Und sie lag auf diesem Bett. Es lief leise Musik. Heiko saß auf der Bettkante und war dabei, ihre Bluse zu öffnen.
Dabei drehten ihre Finger an einem Blusenknopf. Ihre Pupillen waren weit und einen Ton dunkler. Die Stimme wurde rau, pendelte zwischen Edmund und dem Mann auf der Bettkante hin und her. Es schien fast, als sei sie in Trance.
«Du hast mir so gefehlt. Halt mich fest, ja, halt mich genau so fest. Ich will dich mit meinem ganzen Körper fühlen.»
Sie hatte den Blusenknopf geöffnet. Edmund rechnete damit, dass sie ihre Hand unter den dünnen Stoff schob. Das tat sie nicht. Die Hand blieb, wo sie war, reglos auf der Bluse liegen. Sie legte den Kopf zurück, schwieg ein paar Sekunden lang. Nur ihr heftiger Atem war zu hören. Dann flüsterte sie plötzlich: «Bis wir verrückt werden. Nein, mach die Augen nicht zu. Schau mich an. Ich will es sehen.»
Da erst griff Edmund ein. Und während er das tat, wurde ihm klar, dass er längst jede Distanz verloren hatte. Er hätte ihr keine Sekunde länger zuschauen und zuhören können. Seine Stimme klang ungewohnt scharf: «Was wollen Sie sehen, Patrizia?»
Sie zuckte zusammen, schüttelte sich leicht und starrte ihn an, als habe er sie von weit her zurückgeholt. So war es wohl auch. Sie musste sich erst orientieren.
Schließlich sagte sie: «Das kann man nicht erklären. Das ist Magie. Es ist in seinem Blick. Die Wahrheit. Heikos Augen sagen immer die Wahrheit. Manchmal, wenn ich nicht sicher war, habe ich ihn angeschaut. Und dann konnte ich es in seinen Augen sehen. Es war alles gut, es musste so sein.»
Wie sie da vor ihm saß, einen letzten Rest von Entrücktheit auf dem Gesicht, noch ein bisschen von der Glut im Blick, die sie selbst in sich entfacht hatte, hätte Edmund sie schütteln mögen. So lange schütteln, bis sie zur Vernunft kam. Er spürte mit einem Mal eine ungeheure Wut in sich, setzte sich im Sessel zurecht, aufrechter als zuvor, mit mehr Autorität. Seine Stimme hatte er wieder unter Kontrolle. Sie war ruhig, fest und sicher.
«Es war nicht gut, Patrizia. Das wissen Sie auch. Sie wissen es genau. Was Heiko Schramm getan hat, war unmenschlich und grausam, es war ein Verbrechen.»
Sie reagierte nicht sofort. Edmund wiederholte die Sätze noch einmal und sprach weiter. «Kein Mensch kann entschuldigen oder rechtfertigen, was Heiko Schramm getan hat. Niemand, der auch nur ein bisschen Gespür für Recht und Unrecht hat, kann es gutheißen. Und dieses Gespür haben Sie doch, Patrizia. Sie hatten es jedenfalls, bevor Heiko Schramm Einfluss auf Sie nahm. Er hat Ihnen viel davon weggenommen, aber ich bin sicher, es ist noch ein Rest vorhanden. Horchen Sie in sich hinein. Was hören Sie? War es richtig, einen liebenswerten, kultivierten und netten Mann wie Albert Retling halb totzuschlagen, noch auf ihn einzutreten, als er längst bewusstlos am Boden lag? Nein, das war ein Verbrechen. War es notwendig, Albert Retling dermaßen zu misshandeln, wo er doch ohne Gegenwehr den Tresor geöffnet und alles von Wert hergegeben hatte? Nein, es war überflüssig, sinnlos, brutal und grausam. So etwas tut nur ein Mensch, der Freude empfindet, wenn er andere quält und demütigt. Heiko Schramm ist ein Sadist. Und Sie wissen das, Patrizia.»
Sie schüttelte den Kopf.
«Schauen Sie mich an, Patrizia», verlangte Edmund, als sie den Kopf senkte. Und dann behauptete er: «Ich habe keinen Grund, Sie zu belügen oder Ihnen etwas vorzumachen.»
Sie hob den Kopf tatsächlich wieder, aber sie schüttelte ihn immer noch. «Sie haben doch gesagt …»
Edmund lächelte sie an. «Ich weiß, was ich gesagt habe. Und ich weiß, warum ich es gesagt habe. Um Sie zu schützen, Patrizia. Zu dem Zeitpunkt hätten Sie die Wahrheit nicht verkraftet. Jetzt können Sie es, ich werde Ihnen dabei helfen. Nur müssen Sie bereit sein, die Wahrheit zu sehen. Heiko Schramm hat Sie nicht geliebt. Er hat sie benutzt, solange Sie ihm nützlich waren. Danach wollte er nur noch, dass Sie
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