Hoffnung: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
natürlich kann man bleichen, alles ist möglich. Sie nimmt die Flasche von Alex, setzt sie an die Lippen und schluckt, so schnell sie kann. Es schmeckt furchtbar, aber im Bauch verbreitet der Alkohol Wärme und verstärkt das Glücksgefühl. Das ist immer so, aber heute Abend ist es besser denn je. Sie trinkt wieder und wieder, den Blick fest auf Alex gerichtet, ihre tolle Freundin.
9
»He, wartet, was macht ihr?«
Zwanzig Minuten später an der U-Bahn Mariatorget. Gerade ist ein Zug abgefahren, und Jonna schreit laut, als sie sieht, wie Minken und Alex geradewegs auf die Schienen springen.
Minken verschwindet in dem schwarzen Tunnel, aber Alex bleibt kurz stehen und ruft: »Bleib locker, Jonna, es sind noch acht Minuten bis zum nächsten Zug!«
Sie kehrt um und streckt Jonna auffordernd eine Hand hin. Die zögert trotzdem, ist das nicht abartig gefährlich?
»Jetzt komm!«
In dem Moment, als sie schließlich einen Satz macht und auf die Schienen springt, kommt ein Mann von der Rolltreppe heran. Er sieht sie und ruft entsetzt: »Nicht auf die Schienen!«
Es ist ein alter Mann, er geht am Stock und sieht klapprig und harmlos aus, doch seine Stimme ist erstaunlich kräftig und klingt, als sei er es gewohnt, dass man ihm gehorcht.
»Mädchen, kommt sofort da raus!«
Wie ein Kommandant brüllt er, wedelt mit dem Stock über die Gleise, und Alex bleibt provozierend stehen, macht einen Schritt auf ihn zu und brüllt zurück: »Leck mich am Arsch, du alter Sack!«
»Kommt sofort rauf, ehe noch jemand verletzt wird.«
Als er Widerworte bekommt, beruhigt er sich ein wenig, aber er zeigt immer noch mit seinem Stock auf sie und dann auf das Schild, das am Bahnsteig hängt und auf dem steht »Gleise betreten verboten«.
»Wer soll schon verletzt werden außer dir! Pass mal auf!«
Alex stürzt vor und packt das Ende des Stocks. Der Alte hält ihn über die Gleise, und sie zieht so fest und ruckartig daran, dass er ihm aus der Hand gleitet, und der Mann das Gleichgewicht verliert und auf den Bahnsteig fällt. Hilfe! Jetzt schreit er, und Jonna schaudert es, das sah übel aus, wie ist das passiert? Ob er sich etwas gebrochen hat? Wird er wieder auf die Füße kommen? Sie will hinrennen, aber Alex streckt einen Arm aus und hält sie auf.
»Wir lassen uns von niemandem irgendeinen Scheiß bieten, das musst du lernen.«
Nein, er hat sich nichts gebrochen, der Alte scheint einigermaßen unversehrt, doch offensichtlich kommt er nicht ohne seinen Stock hoch.
»Gebt mir den Stock, ihr Mädchen, bitte.«
Der Stock liegt vor ihnen auf den Gleisen, Jonna beugt sich hinab, doch Alex nimmt ihn blitzschnell und schleudert ihn in den Tunnel. Dann legt sie rasch den Arm um Jonna und sagt, dass sie jetzt mal von den Überwachungskameras wegkommen sollten.
Wie? Aber sie können doch den Alten nicht einfach dort liegen lassen!
»Doch! Die kommen gleich!«
Jonna will sich aus Alex’ Griff befreien, schafft es aber nicht. Sie ist vollkommen verwirrt und verängstigt, und Alex zerrt sie mit sich in die Dunkelheit, drückt sie an die Tunnelwand und zischt, dass die Wachleute auf dem Weg in die Station sind.
»Und du wirst nie, niemals diesen Ort hier verraten, ist das klar?«
Im Tunnel riecht es nach Ruß, Metall und verbranntem Gummi. »Der Ort« ist ein Raum aus Beton auf einem Absatz, der entlang der Gleise führt. Um ihn zu erreichen, müssen sie dreißig, vierzig Meter in den Tunnel hineingehen. Die Decke ist hoch wie in einem Saal, die Wände sind schwarz von Ruß, und weit oben sind mit Vogelscheiße bedeckte Betonstreben zu erkennen, die mit Nägeln zur Taubenabwehr versehen sind.
Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, sieht Jonna, dass etwas weiter hinten im Raum zwischen Spraydosen und allem möglichen anderen Kram eine Gruppe Leute direkt auf dem Betonboden sitzt, während an einer Wand dahinter welche stehen und Graffiti sprayen. Alex zeigt auf ein paar Eisentüren am Ende des Raumes und erklärt, dass dieser Raum von den Bautrupps der Bahngesellschaft benutzt wird.
»Aber es ist hier eigentlich nie jemand außer uns.«
Es ist offenkundig, dass sie sich hier sicher fühlt. Sie geht entspannt herum, plaudert mit den anderen und stellt ihnen Jonna vor. Da sind Jungs in Kapuzenpullovern, die mit einem großen Graffitibild beschäftigt sind, und fünf Mädchen, offenbar aus Migrantenfamilien, die entlang einer der bekritzelten Wände sitzen. Dann geht sie zu Niki, die ganz hinten in einer Ecke unter
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