Hoffnung: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Sie schließt die Augen und versucht nachzudenken, zupft an ihren Haarsträhnen und wirft Alex, die genauso blass und elend dasitzt, einen fragenden Blick zu.
»Was sollen wir tun?«
»Ich wollte das ja von Anfang an nicht machen!«, schimpft Minken, springt plötzlich vom Boden auf und tritt nach ein paar alten Spraydosen, sodass sie mit lautem Geklapper auf die Schienen sausen. »Und trotzdem bin ich derjenige, der den meisten Stress kriegt!«
Ein paar Tauben flattern erschrocken von Betonbalken an der Decke auf und fliegen in die Dunkelheit davon. Jonna schluckt und nickt, das ist in der Tat komisch. Alex, die die treibende Kraft war, hat weder Anrufe noch SMS bekommen, wie ist das möglich?
»Stimmt, es war wirklich Alex, die …« Sie denkt laut und bereut es sofort.
»Die was? Schiebst du mir die Schuld zu?«, faucht Alex sie an, und Jonna verstummt. Vielleicht ist es ja auch egal. Sie sieht stattdessen zu Minken, der immer noch herumläuft und Müll auf die Schienen kickt. Zwischen den Betonwänden fängt es an zu dröhnen und ein Windzug fährt in den Raum, als der Zug kommt, und da fängt Minken an zu schreien und mit leeren Dosen nach den Waggons zu werfen.
»Ich will nach Hause!«
Der Zug beschleunigt, in den Waggons stehen die Leute dichtgedrängt. Jonna sieht eine Frau in einem hellen Mantel und mit Fahrradhelm, die in einem Wagen ganz nah an der Tür steht. Sie hält sich an einer Stange fest und stiert müde in die Dunkelheit, doch als plötzlich Dinge an die Scheibe fliegen, fährt sie zusammen.
»Jetzt hör doch auf.«
Sie sind fast allein im Betonraum, nur ganz hinten stehen ein paar Typen und sprayen auf eine Wand, aber es ist niemand dabei, den sie kennen. Nun haben sich die Jungs umgedreht und rufen Minken ebenfalls zu, dass er das Dosenwerfen sein lassen und die Klappe halten soll.
»Verdammt noch mal! Ich will nach Hause!«
*
»Wieso fährst du eigentlich nicht nach Hause?«
Einige Zeit später sitzen Alex und Jonna auf einer Bank im Wartesaal des Hauptbahnhofs. Sie waren eine Etage tiefer bei dem netten Typen in dem Café und haben übriggebliebene Sandwiches bekommen. Er war ganz offensichtlich bekümmert darüber, Jonna wiederzusehen, aber sie hat sich nicht um sein Gerede von wegen »Bitte schön, rufstu Mama, Papa an« geschert. Sie war einfach nur froh über das Essen und froh darüber, endlich einmal was für Alex tun zu können, auch wenn es sich nur um alte Brote handelte.
Jetzt sitzen sie also auf einer Bank und haben endlich etwas im Magen. Es sind viele Leute unterwegs, fröhliche gewöhnliche Leute, die auf dem Heimweg von den Weihnachtsfeiern und Verwandten sind, und Jonna sieht Wachleute und auch Polizisten, die in der großen Halle patrouillieren, weshalb sie sich an diesem Ort sicher und geborgen fühlen. Aber dann kommt diese Frage.
Jonna seufzt und zischt zur Antwort: »Warum ich nicht nach Hause fahre? Warum fährst du denn nicht nach Hause?«
»Weil ich keines habe. Die Sozialhilfe von Mama ist zu spät gekommen, und da sind wir rausgeschmissen worden, damals war ich zehn Jahre alt und bin ins Heim gekommen. Aber du scheinst doch zumindest ein Zuhause zu haben, oder?«
Doch. Aber geht es hier nur um ein Dach über dem Kopf? Braucht es nicht noch mehr, um einen Ort ein Zuhause nennen zu können? Jonna versucht, es Alex zu erklären – ihre Wut, die Scham und die Trauer darüber, dass ihre Mutter sich nie um sie geschert hat, nicht einmal jetzt, wo sie es doch versprochen hatte. Die Reise nach Mallorca, die zum Tropfen auf dem heißen Stein wurde, und dann all die Versuche, all die verdammten Anrufe zu Hause bei Oma.
»Du bist abgehauen, weil du wütend warst? Aber jetzt bist du doch gar nicht mehr wütend.«
Nein, vielleicht nicht. Jonna schüttelt den Kopf über Alex’ Frage.
Stimmt, die Wut ist abgekühlt. Aber der Streit über das Weihnachtsfest war ja wirklich nur der letzte Tropfen. Zu Hause hat sich nichts verändert, und wenn sie zurückmuss, dann riskiert sie, so zu enden wie Angelika Andersson. Erst im Gymnasium nämlich hat Jonna wirklich begriffen, was ihr fehlte, und das Gerede der Klassenkameradinnen über ihre Familien, das war wie Salz in einer offenen Wunde. Was haben die darüber gestöhnt, sich an feste Zeiten halten zu müssen, Vokabeln abgefragt zu werden und dass ihre Eltern immer davon redeten, sie sollten mit aufs Land fahren. Gemeinsame Mahlzeiten, freitags gemütlicher Familienabend – so übersättigt waren sie von all dem,
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