Hohe Wasser
Programm stand fest und wurde wegen der Witterung nicht geändert. Zuerst ein Spaziergang auf den Pier hinaus, dann den Klippenweg entlang um die Landspitze herum zum Schloss mit den hängenden Gärten, wenn möglich der Sonnenuntergang und wahrscheinlich wieder Joyce. Früher hatten sie sich gegenseitig aus dem Ulysses vorgelesen … und ich hab ihm zuerst die Arme um den Hals gelegt und ihn zu mir niedergezogen, dass er meine Brüste fühlen konnte, wie sie dufteten … Er hoffte, sie würde es nicht darauf ankommen lassen.
Am Pier traten sie aus dem Windschatten. Der Wind schlug ihnen ins Gesicht und blähte ihre Jacken auf. Sie zurrten die Kapuzen fest und stapften gegen den Wind zum Leuchtturm. Dann hatten sie den Wind im Rücken. Sie wurden gezerrt und geschoben. Plötzlich breitete sie die Arme aus, lief ein Stück, sprang und lief weiter. Es sah aus, als wollte sie abheben. Dann keuchte sie zu ihm zurück.
– Fotografierst du mich?
Er ging voraus ans Ende des Piers und gab ein Zeichen. Sie lief ein Stück, lachte und sprang. Mit dem Zoom holte er ihr Gesicht heran. Der Wind hatte ihre Haare aus der Kapuze genestelt und einen Strahlenkranz daraus gemacht. Sie schaute am Objektiv vorbei in die Ferne und schien glücklich dabei. Er stellte eine höhere Blende. Wieder rannte sie mit geblähten Ärmeln, die Jacke ein Segel, sie sprang hoch in die Luft und juchzte.
– Noch einmal?
Er drehte am Objektiv, bis sie ein Teil des Bildes war. Grau die Wolken, der Leuchtturm und das Meer. Weiß der tanzende Mastenwald der Segelschiffe im Hafenbecken, die Schaumkronen und die aufspritzende Gischt hinter der Mauer. Ihre Regenjacke ein leuchtend roter Fleck.
– Jetzt!, schrie er.
Sie rannte auf ihn zu mit ausgebreiteten Armen, lachte, sprang in die Höhe, lief schneller. Er trat zwei Schritte zurück, um sie im Sprung ins Bild zu kriegen. Am unteren Rand des Suchers sah er die Kette. Eine alte eiserne Kette mit schweren Gliedern, in leichtem Bogen versperrte sie die Zufahrt zum Pier. Sie war ihm vorher nicht aufgefallen. Die Kette wollte er nicht im Bild haben. Da sah er, dass sie Anlauf nahm. Sie sprang. Sie sprang nicht hoch genug. Die Kette bremste sie am Schienbein. Einen kurzen Augenblick schien sie in der Luft zu stehen, rudernd und flatternd, wie ein gemästeter Truthahn, der nicht wahrhaben wollte, dass ihn seine Flügel nicht trugen.
Das wird ein Foto, dachte er. Er war nicht schnell genug. Ein kurzer Schrei. Mit dem Gesicht voran schlug sie der Länge nach auf dem Asphalt auf.
Jesus!
Er stand noch immer da mit dem Fotoapparat in der Hand. Er wusste nicht, woher die vielen Menschen gekommen waren, die sich über seine Frau beugten. Er war nicht im Stande, einen Schritt näher zu gehen. Zwei Männer stützten die Frau, halfen ihr, sich aufzusetzen. Eine Frau strich ihr übers Haar. Ein Schwarzer kam auf ihn zu.
– You are the husband?
Seine Frau blutete aus Mund und Nase, das Kinn war aufgeschlagen und die Knie. Stumm sah sie ihn an. Die Rettung war informiert. Man wischte der Frau das Blut vom Mund.
– Da drüben ist ein Pub, sagte ein Mann, dort können Sie auf die Rettung warten.
– Möchtest du?, fragte er sie. Sie schüttelte den Kopf.
– Soll ich Ihnen ein Bier herüberbringen, fragte der Mann, oder einen Whiskey?
Ihm war danach, ein Glas in einem Zug auszutrinken und ein zweites dazu.
Ozeanforscher benutzten bisher eine mathematische Formel, um Wellenhöhen vorauszusagen. Dieses lineare Modell zeigt, dass in einem Sturm die durchschnittliche Wellenhöhe zwölf Meter beträgt. Dem Modell zufolge gibt es keine Brecher, die höher als fünfzehn Meter sind. Die meisten Schiffe sind so gebaut, dass ihnen fünfzehn Meter hohe Wellen nichts anhaben können. Dreißig Meter hohe Wellen sind sehr selten und kommen statistisch gesehen alle zehntausend Jahre vor. Erzählungen von Riesenwellen wurden als Seemannsgarn abgetan.
Aber mit fortschreitender Technik gibt es mehr Überlebende bei Schiffsunglücken und mehr Zeugenberichte. Aus dem Nichts, erzählen Überlebende, sei plötzlich die Riesenwelle aufgetaucht, mindestens doppelt so hoch wie die übrigen Wellen. Vor der südafrikanischen Küste wurden in den letzten Jahren mindestens zwanzig Schiffe von Freak Waves beschädigt oder versenkt. Im Nordatlantik sanken mindestens 27 Schiffe durch Seeschlag. In der Nordsee zerstörte eine 26 Meter hohe Welle eine Ölbohrinsel. Das Kreuzfahrtschiff Bremen, vom Polarkreis Richtung Rio im Südatlantik
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