Hohe Wasser
hatte geschlossen. Die Sperre richtete sich nach dem Sonnenstand. Laut Anschlag würde die Tür erst am späten Nachmittag wieder offen stehen. Die Passagiere der Fähre waren schnell verschwunden. Sie wurden erwartet. Alle waren abgeholt worden oder wussten, wohin sie gehen mussten. Familienangehörige hatten am Kai gewartet, Nachbarn, Geliebte, Ehefrauen, Freunde. Sie hatten jemanden in die Arme geschlossen oder ein Paket übernommen. Alle hatten ein Ziel. Nur sie und die Kinder standen in der Mittagshitze mit dem Gepäck. Es sah nicht gut aus. Die Herbergssuche schien wieder aufreibend zu werden.
– Kann ich Ihnen helfen, Madame?
Der Mann, der sie angesprochen hatte, trug weiße Turnschuhe, blau-türkis karierte Bermudashorts, ein kurzärmeliges Polohemd und war zwei Köpfe größer als sie. Er war schwarz und lächelte. Was will der uns helfen, schoss es ihr durch den Kopf.
– Nein danke, wir benötigen keine Hilfe, sagte sie.
Der Mann schien irritiert vom gereizten Klang ihrer Stimme. Er suchte ihren Blick. Sie sind zum ersten Mal hier? Sie werden abgeholt? Nein? Sie suchen eine Unterkunft? Sie werden kein Zimmer bekommen. Es ist sehr schwierig. Die Ferien. Und nächste Woche das Festival. Das internationale Festival der Inselfilme. Das sollten Sie sich ansehen. Aber Sie müssen reservieren. Wenn Sie erlauben, helfe ich Ihnen mit dem Gepäck. Sie haben sehr viel Gepäck.
– Nein, danke, wir benötigen keine Hilfe, sagte sie auf Französisch, bitte lassen sie unser Gepäck stehen, und auf Deutsch fügte sie hinzu: Überall dasselbe, in Österreich und auf einer kleinen bretonischen Insel. Könnt ihr einen nicht in Ruhe lassen? Wenn ich sage, wir brauchen keine Hilfe, dann brauchen wir auch keine.
– Pardon, Madame, sagte der Schwarze förmlich, ich habe gesehen, dass Sie fremd sind. Ich dachte, Sie benötigen Hilfe. Wenn ich Ihnen trotzdem helfen kann, voilà.
Er kritzelte etwas auf eine Visitenkarte. Dem Papier zufolge, hieß der Mann Maurice Soukop und war Pulmologe in Montpellier, auf die Rückseite hatte er eine Adresse und eine Telefonnummer notiert und eine Skizze beigefügt. Eine Straßenkreuzung, ein Kirchturm, ein Platz, eine weitere Kreuzung, an der die Straßen sternförmig auseinander liefen, ein Pfeil und ungefähr in der Mitte einer zwei Ortschaften verbindenden Straße ein zweiter Pfeil auf einen Kreis. Ici.
Die Straße vom Hafen zum Hauptort der Insel zog sich vorbei am Heimatmuseum, einer Brandruine, dem hellblau verputzten Cinéma des familles und einer Buchhandlung einen Hügel hinauf. An einem Stein hatte sie sich die große Zehe gestoßen. Die Zehe blutete. Die Griffe der Reisetaschen schnitten in die Handflächen. Die Kinder plagten sich mit den Koffern, die auf der Straße nicht rollen wollten. Um sie abzulenken, begann sie von den Thunfischen zu erzählen. Der Thunfisch ist ein Wanderfisch. Er hat Silberaugen und die Form einer Spindel. Das macht ihn pfeilschnell. Im Frühjahr schwimmen die Schwärme ins Mittelmeer, um zu laichen. Vor der sizilianischen Küste warten die Fischer mit der Mattanza, einem Schlachtfest. Im Juni sind die Schwärme im Ärmelkanal. Sie ziehen bis nach Norwegen, bis zur irischen Küste, bis zu den Azoren. Früher hatten auch die Menschen von Groix vom Fischfang gelebt. Zuerst von den Sardinenschwärmen. Als die eines Tages, man weiß nicht, ob es wegen einer Klimaveränderung war oder wegen Überfischung, ausblieben, mussten sie sich etwas einfallen lassen, wenn sie auf der Insel überleben wollten. Die Groisillons spezialisierten sich auf den Fang des Germons, des weißen Thunfischs. Sein helles Fleisch ist begehrt und teuer. Der Germon bevorzugt eine Wassertemperatur von siebzehn Grad. Das Blut des Thunfisches ist warm. Achtzehn Jahre alt könnte er werden. Bei Tagesanbruch kommt der Fisch zur Wasseroberfläche, um zu jagen. Das war die Stunde der Fischer. Für den Thunfischfang bauten sie eigene Segelschiffe. Elegant wirkende, wendige und schnelle Zweimaster mit großen Segeln und breiten Stangen für die Netze. Gleichzeitig wurden Konservenfabriken errichtet, um das Fleisch des Thon zu konservieren. Das Meer forderte seine Opfer. Viele Fischer kehrten vom Fischfang nicht zurück. Auf dem Friedhof steht ein Gedenkstein für sie. Nach dem Krieg war die Thunfischzeit vorbei. Andere hatten bereits motorisierte Flotten. Die Achtung vor den Fischen blieb. Auf dem Kirchturm schwimmt noch immer ein Thunfisch statt des Wetterhahns im Wind. Heuer kommen
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