Hohe Wasser
voit Groix, voit sa joie, wer Groix sieht, sieht seine Freude, besagte ein bretonisches Sprichwort, im Gegensatz zur Charakterisierung der von starken Strömungen umfassten Ile d’Ouessant im Westen: Qui voit d’Ouessant, voit son sang – Wer Ouessant sieht, sieht sein Blut. Die Kinder teilten ihre Freude nicht. Die Reise bot keine Überraschungen für sie. Ein ständiges Aufbrechen, ein hastiges Ankommen und keine außerordentlichen Erfreulichkeiten, weil bereits mit jedem Cent gerechnet werden musste. Das kannten sie von daheim. Müssen wir auf die Insel auch noch? Warum fahren wir nicht früher nach Hause? Ich will …, ich möchte …, warum hast du nicht …, warum dürfen wir nicht? Beide Kinder hatten sehr viel von ihrem Vater. Als sie noch auf ihre Brust angewiesen waren, forschte sie oft stundenlang in den vom Schlaf entspannten Gesichtszügen. Nach wem würden die Kinder kommen?
Hier die Nasenflügel und das Grübchen, dort die hohe Stirn, die Stellung der Brauen, der vertraute Zug um den Mund. Die Entwicklung, die Veränderung in den Gesichtern hatte sie in ihrem Tagebuch festgehalten, auch Mutmaßungen darüber, welche Wesenszüge die Kinder annehmen würden. Jetzt erschrak sie manchmal. Über die Ähnlichkeit der Kinder mit ihrem Vater, noch mehr aber über die Ähnlichkeit, die die Kinder mit ihr hatten. Der Bub hatte die Neigung zur Ungeduld und zum unüberlegten Handeln. Das Mädchen scheute Konflikte und gab schnell auf, wenn es sich einer Herausforderung stellen sollte. Wenn das Mädchen mit den Schultern zuckte, spürte sie kalte Wut aufsteigen. Auf das Kind, auf sich selbst und auf ihre Mutter, die immer betonte, dass sie eben das Pech gepachtet hätten im Leben. Als junge Frau hatte sie sich vorgenommen, mit beiden Händen nach dem Glück zu greifen, sobald es sich zu erkennen gab, und das Leben anders zu nehmen als die Mutter. Inzwischen war auch sie davon überzeugt, dass in ihrer Familie den Frauen das Glück versagt blieb. Sie spürte, wie sich diese Einstellung auf die Tochter übertrug, und sie war wütend auf das Kind, weil es diese Haltung nicht in Frage stellte. Sie musste am Aufbruch festhalten, um dem Kind Alternativen aufzuzeigen – auch wenn sie selbst am Gelingen zweifelte.
Die Insel hatte sich zur Gänze aus dem Bereich der Unschärfe geschoben und lag wie ein funkelnder Edelstein vor ihnen. Helle Sandbuchten waren zu erkennen, grün bewachsene Felshänge, hier und da der getünchte Rauchfang eines Hauses, davor das Meer in einer blauen Schuppenhaut, über allem ein satter Himmel und eine weiße Wolkenherde. Sie nahm sich vor, Kurs zu halten. Trotz der Verluste und Veränderungen war der Neubeginn ein Gewinn für alle. Die Fähre stieß einen heiseren Signalton aus, änderte den Kurs und fuhr die Küste entlang auf die Hafeneinfahrt zu. Vielleicht sollten sie sich zur Erkundung der Insel doch Fahrräder ausleihen. Eine Abwechslung für die Kinder. Der Überziehungsrahmen ließ wahrscheinlich auch noch ein paar bessere Mahlzeiten im Restaurant zu. Daheim würden sie schon irgendwie zurechtkommen, bis sich eine Lösung fand. Unmittelbar neben ihrem Kopf explodierte etwas mit lautem Knall, und ein dumpfer Schmerz schoss ihr in die Seiten. In Panik schrie sie auf. Ausgelassenes Gelächter. Die Kinder hatten sie nicht vergessen. Und weil er es lustig fand, stieß ihr der Sohn noch einmal seine Karatehände in die Flanken, während das Mädchen neben sie an die Reling gesprungen war, »huhu« schrie und die geplatzte Hülle eines Luftballons schwenkte. Sie wirbelte herum und erwischte den Sohn gerade noch am Handgelenk.
– Mach das nie wieder, herrschte sie ihn an und drückte seine Hand eine Spur fester als notwendig.
– Warum müsst ihr mich immer erschrecken?
– Weil du nie da bist, weil du immer woanders bist mit dem Kopf, zeterte der Bub, erschrocken über ihren groben Griff. Mit der anderen Hand hatte sie das Mädchen zu fassen bekommen.
– Runter vom Geländer, sofort. Das Mädchen lachte.
– Mama, jetzt müsstest du dich sehen. Du hast ein Ameisengesicht. Ein zorniges Ameisengesicht. Du siehst nicht gut aus.
Der Bub entwand sich ihrer Hand und spottete: Ameisengesicht, Ameisengesicht. Sie wusste nicht, wie sie auf die Attacke der Kinder reagieren sollte. Sie überlegte kurz, mit dem unverzüglichen Abbruch der Reise zu drohen. Sie befürchtete, nicht überzeugend zu wirken.
Die Touristeninformation war im ersten Stock eines neuen Zweckbaus untergebracht und
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