Hohle Köpfe
groß an. Sie glaubten, daß sie sich in einem me-
taphysischen Labyrinth verirrt hatten.
»Jetzt will ich euch mal wasch schagen«, verkündete Nobby. Er
schwankte jetzt so regelmäßig wie ein umgedrehtes Pendel. »So’n Kram
bedeutet nichtsch, überhaupt nichtsch im Vergleich zum Schtolz auf die eigene Abschtammigung…«
»Abschtammigung?« wiederholte Feldwebel Colon.
»Vorfahren und scho«, erklärte Nobby. »Ich meine, ich habe Vorfah-
ren, und wer kann dasch schon von euch behaupten, na?«
Colon verschluckte sich fast an seinem Bier.
»Jeder hat Vorfahren«, sagte der Wirt ruhig. »Andernfal s wäre der Be-
treffende nicht hier.«
Nobby versuchte, den Blick beider Augen auf ihn zu richten. »Ja, ge-
nau!« erwiderte er schließlich. »Ja! Aber ich… ich habe mehr als ihr, ka-piert? Dasch Blut der verdammten Könige fliescht bei mir, in meinen
Adern, jawohl.«
»Noch«, warf jemand ein. Einige Leute lachten. Es war jene Art von
Vorfreude, die Colon zu respektieren und zu fürchten gelernt hatte. Das
Lachen erinnerte ihn an zwei Dinge. Erstens trennten ihn nur noch
sechs Wochen von der Pensionierung, zweitens lag sein letzter Besuch
des Aborts schon eine ganze Weile zurück.
Nobby suchte in seinen Taschen und holte eine zerknitterte Schriftrol-
le hervor. »Scheht ihr dasch hier?« fragte er und entrol te das Pergament
mühsam. »Scheht ihr’s? Ich habe dasch Recht, ein Wappendingsbums zu
tragen. Hier schteht’s. ›Graf‹ schteht da, habe ich recht? Damit bin ich
gemeint. Du könntescht du könntescht du könntescht meinen Kopf
über die Tür hängen.«
»Ja, das könnte ich«, sagte der Wirt und sah zu den übrigen Gästen.
»Ich meine, du könntescht den Namen diescher Taverne ändern, zum
Beischpiel in ›Graf vom Ankh‹ oder scho, und dann komme ich regelmä-
schig hierher und trinke wasch, na, wasch hältscht du davon?« fragte
Nobby. »Wenn schich herumspricht, dasch ein Graf zu deinen Gästen
zählt, geht dasch Geschäft noch bescher, und ich schtel e dir dafür über-
haupt nix in Rechnung. Die Leute schagen: He, dasch ischt eine piekfei-
ne Taverne, da trinkt der Graf de Nobbes, der Laden hat Schtil.«
Jemand packte Nobby am Kragen. Colon kannte den Mann nicht. Er
gehörte zu den narbengesichtigen Stammgästen der Geflickten Trommel,
die etwa um diese Zeit die ersten Flaschen mit den Zähnen öffneten,
beziehungsweise mit den Zähnen anderer Leute, wenn es ein wirklich
guter Abend war.
»Willst du vielleicht behaupten, daß wir für dich nicht gut genug sind?«
fragte der Mann.
Nobby winkte mit der Schriftrolle. Er öffnete den Mund, und Feldwe-
bel Colon wußte, welche Worte er formulieren wol te. Er hörte bereits
den gräßlichen, eine Katastrophe auslösenden Klang von: »Laß mich los,
du bürgerlicher Lümmel!«
Colon bewies ein hohes Maß an Geistesgegenwart und einen ebenso
ausgeprägten Mangel an gesundem Menschenverstand, als er rief: »Seine
Lordschaft gibt für al e einen aus!«
Im Vergleich mit der Geflickten Trommel wardie Taverne Eimer in der Schimmerstraße eine Oase kalten Friedens. Es war die Stammkneipe der
Wache, ihr stiller Tempel in der Kunst des Sich-langsam-vollaufen-
Lassens. Im Eimer wurde nicht etwa besonders gutes Bier ausgeschenkt.
Das Bier kam vielmehr schnell und unaufdringlich, außerdem konnte
man anschreiben lassen. Im Eimer brauchten die Wächter nicht al es zu sehen oder zu hören; hier durften sie ungestört sie selbst sein. Niemand
konnte Alkohol mit solcher Gründlichkeit aufnehmen wie ein Wächter
nach acht Stunden Dienst auf der Straße. Er bot ihm ebensoviel Schutz
wie Helm und Brustharnisch. Der Alkohol sorgte dafür, daß die Welt
weniger Schmerzen verursachte.
Und Herr Käse, der Wirt des Eimers, war ein ausgezeichneter Zuhörer.
Meistens hörte er Bemerkungen wie »Bring am besten gleich zwei« und
»Wo bleibt der Nachschub?« Er gab auch die richtigen Antworten, zum
Beispiel: »Anschreiben? Geht klar, Herr Wachtmeister.« Er konnte sich
darauf verlassen, daß die Wächter ihre Zeche bezahlten – andernfal s
mußten sie einen ermahnenden Vortrag von Karotte über sich ergehen
lassen.
Mumm saß verdrießlich hinter einem Glas Limonade. Er wünschte
sich einen Drink und wußte genau, warum das nicht in Frage kam: Der
eine Drink kam mit großer Wahrscheinlichkeit in zwölf Gläsern. Doch
diese Gewißheit machte es nicht leichter.
Die meisten Angehörigen der Tagesschicht waren
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