Hola Chicas!: Auf dem Laufsteg meines Lebens (German Edition)
schlichen uns davon, nahmen das Auto und blieben die ganze Nacht weg, um all das zu machen, was wir als Jugendliche so oft gemacht hatten: erst ein Eis, dann ein Drink, ein Abstecher in die Disco, Sonnenaufgang am Malecón … Irgendwann kurz vor dem Morgengrauen saßen wir dort an der Uferpromenade, erzählten uns Geschichten von früher und erinnerten uns an alles, was wir als beste Freunde gemeinsam erlebt hatten. Da merkte ich, wie stark mein Ich in Europa, in Deutschland geworden war. Der Jorge, der diesen Abend genoss, war homosexuell und frei.
Als wir gegen acht Uhr morgens zurückkamen, erwartete uns schon das »Militärtribunal«: Mama, Papa und Christina, die uns mit ihren strengen Blicken fast durchbohrten.
Christina rief aufgebracht: »Wie kannst du so was machen? Du hast einfach das Auto genommen. Es hätte dir doch was passieren können. Du kannst nicht fahren. Ein Unfall … die Polizei … Was denkst du dir nur?«
Sie war so was von sauer, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich wieder beruhigte. Obwohl wir uns irgendwann an diesem Tag alle wieder vertrugen, blieb Christina misstrauisch.
Als sie am nächsten Abend mit einem »Gute Nacht« verschwunden war, wartete ich eine Weile, bis ich auf Zehenspitzen in ihr Zimmer schlich. Dort suchte ich nach dem Schlüssel, als mir plötzlich – kabomm – etwas auf die Finger knallte. Es war Christinas Hausschuh, der griffbereit zur Verteidigung ihres Autoschlüssels unter ihrem Kopfkissen lag.
»Den wirst du nie mehr in die Finger bekommen, Orgito«, sagte sie triumphierend. Da erst sah ich, dass sie sich den Schlüssel mit einer Schnur um den Hals gebunden und unter den Pyjama gesteckt hatte.
Ein paar Tage später war es dann Christina, die unbedingt ausgehen wollte – in eine Salsadisco. Ich war nicht begeistert, weil ich noch das Bild aus früheren Zeiten im Kopf hatte, wie dort Machos die Frauen mit dummen Sprüchen anmachten. Aber Christina setzte sich durch. Als wir in die Diskothek kamen, mussten wir zunächst zehn Dollar Eintritt bezahlen. Dafür erhielten wir einen Coupon, mit dem man so viel trinken konnte, wie man wollte. Ich schaute mich erst mal ein bisschen in dem Laden um und entdeckte ungefähr fünfzehn Chicas, topgestylt, sexy und eine hübscher als die andere, auf der Tanzfläche. Toll, dachte ich, da ist eine Showgruppe, die ein Tanzprogramm macht.
An der Bar bestellte ich einen Mojito. Bevor ich überhaupt getrunken hatte, kam eine der wunderschönen Chicas, nahm mein Glas, trank es leer, leckte sich die Lippen und sagte: »So, und was machen wir jetzt?« Ich schaute sie an und begriff schlagartig die traurige Realität Kubas. All diese hübschen Chicas waren Prostituierte, die hier auf Arbeit hofften.
»Sag mal«, fragte ich sie, »hast du keine Angst, dass ich Herpes, Syphilis oder sonst eine Krankheit habe?«
»Pfff, ich hab schon so viele Antikörper«, sagte sie gelangweilt. »Viel wichtiger ist doch: Was machen wir jetzt?«
»Was ich mit dir machen soll?«, fragte ich. »Nichts. Ich bin Kubaner.«
»Nein«, sagte sie und grinste verschwörerisch, »du bist kein Kubaner. Zumindest keiner von hier. Wenn, dann aus Miami.« Damit meinte sie die Exilkubaner mit Geld.
»Auch wenn ich ein Kubaner aus Miami wäre, könnte ich nichts mit dir anfangen. Denn ich bin gay.«
Als sie das hörte, sagte sie nur: »Oh, kein Problem«, schaute nach ihren Freunden und rief: »Roberto, Pablo, Pedro, hierher …«
Nach diesem Erlebnis drehte ich mich zu Christina und sagte: »Weißt du was, ich muss hier raus.« Das war nicht mehr mein Kuba, sondern das neue Kuba, das ich bisher nur aus dem Fernsehen kannte und an das ich mich erst gewöhnen musste. Es fiel mir schwer, diese neue Realität zu akzeptieren. Auch weil ich in meinem eigenen Land zum Touristen geworden war, der die heißbegehrten Dollars besaß, mit denen man sich alles kaufen konnte. Sogar Menschen.
Die Stunde der Wahrheit
Kurze Rückblende: Ein Jahr vor meiner Reise nach Kuba hatte ich meinen Job in der Boutique gekündigt und mich als Stylist und Imageberater selbstständig gemacht. Außerdem absolvierte ich ein Praktikum als Kostümbildner beim Fernsehen, und zwar für eine beliebte Krankenhausserie. Ich wollte wissen, was hinter den Kulissen vor sich ging. In dieser Zeit traf ich meinen jetzigen Lebensgefährten, der mich sehr darin unterstützte, diesen Weg zu gehen. Sobald ich genug Erfahrungen gesammelt hatte, entschlossen wir uns, zusammen eine Eventagentur zu
Weitere Kostenlose Bücher