Hollisch verliebt
Hundertfünfundsiebzig.
Eine Reihe von Flüchen entfuhr ihm, aber wenigstens half ihm der Alkohol, sich nicht zu übergeben. Er platzierte sich hinter Mary Ann. Im Spiegel gegenüber konnte er sehen, dass ihre Augen immer noch geschlossen waren und ihre Züge relativ entspannt. Wieder atmete er durch. Du kannst das. Nicht zögern. Tu’s einfach.
Er hob den Arm. Und ließ ihn wieder sinken. Mach schon!
Noch einmal das Spielchen. Er hätte das Pfeilende gern genommen und mit einem Ruck herausgezogen, das wäre recht einfach gewesen. Aber das Holz war so von Blut verschmiert, dass er den Pfeil nicht fest genug packen konnte. Deshalb würde er gegen ein Ende schlagen müssen, um das Geschoss auf der anderen Seite hinauszutreiben. Aber schon der Gedanke, sie zu schlagen …
Willst du sie lieber sterben lassen? Willst du Lusche kneifen, statt alles zu versuchen?
Brüllend ballte Riley die Faust und tat es. Mit ganzer Kraft schlug er gegen das abgebrochene Ende des Pfeils. Erst traf er Holz, dann Mary Ann und schlug so den Pfeil aus ihrem Körper heraus. Sie zuckte kaum.
Gut. Erledigt. Das Schlimmste war geschafft. Jetzt kam der leichte Teil.
Warum wurde ihm dann so flau? Als er Mary Ann säuberte und verband, wurde sein Zittern noch schlimmer, und danach war er voller Blut. Schon wieder. Und es war frisches Blut. Also hatte sie noch einmal einiges verloren.
Sie brauchte möglichst bald eine Transfusion. Bis jetzt hatte sie nur überlebt, weil sie unterwegs der Hexe Energie entzogen hatte. Aber das würde sie nicht mehr lange retten. Ihr Atem rasselte. Das Todesröcheln nannten manche das.
Riley fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. Was sollte er tun? Er konnte sie nicht ins Krankenhaus tragen, das würde sie nicht überleben. Das Gerüttel würde sie umbringen. Ein Krankenwagen könnte sie vielleicht noch retten, aber nur, wenn er mit Lichtgeschwindigkeit herkam.
Was für ein Albtraum. Jetzt bekam er wirklich Panik. Er lief auf und ab, immer wieder blieb sein Blick am Telefon hängen. Wenn er den Krankenwagen rief, würde man sie abholen, aber auch ihren Vater benachrichtigen. Dr. Gray würde Mary Ann mit nach Hause nehmen, wo alle möglichen Feinde auf sie warten könnten. Sie würden zuschlagen, solange Mary Ann zu schwach war, um sich zu wehren.
Allerdings musste man leben, um sich verteidigen zu können, unddas war um Längen besser, als tot zu sein.
Damit war die Entscheidung gefallen.
Riley rief einen Krankenwagen, meldete den Notfall – verletztes Mädchen, starker Blutverlust, Adresse –, ohne Namen zu nennen, und setzte sich vorsichtig neben Mary Ann.
„Sag ihnen nicht, wie du heißt.“ Er hoffte, dass sie ihn irgendwie verstand. „Egal, was du tust, sag ihnen nicht, wie du heißt.“
Keine Antwort. Nicht einmal eine Aura hatte sie noch. Sie war völlig farblos.
Ohne zusätzliche Energie würde sie es nicht schaffen, egal wie schnell die Sanitäter kamen. Um eine der von ihr bevorzugten Hexen zu besorgen, reichte die Zeit nicht, aber es blieb noch eine andere Lösung: Sie konnte seine Energie nehmen.
Ohne über den Plan oder die möglichen Konsequenzen nachzudenken, streckte Riley die Arme aus und legte ihr beide Hände flach auf die Brust, direkt über ihr schwaches Herz. So etwas machte er zum ersten Mal, und er wusste nicht, ob es funktionieren würde, aber er wollte es versuchen. Vielleicht würde ihr Körper trotz der schweren Verletzung von allein Energie aufnehmen.
Mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich auf sein Wesen als Wolf. Er ging bis in sein Innerstes, bis ins Mark, wo winzige goldene Lichtreflexe umherwirbelten. Er kanalisierte sie, trieb sie aus seinem Körper, seinen Poren und drängte sie in Mary Ann.
Ihr ganzer Körper zuckte, sie keuchte auf. Im nächsten Moment sank sie matt auf die Matratze. Ihr Atem schien sich etwas zu beruhigen. Frisch entschlossen drängte er weiter Energie in Mary Anns Körper, bis er selbst keuchte und schwitzte und sein Puls in die Höhe ging. Bis sich seine Muskeln schmerzhaft verkrampften, vielleicht für immer. Bis sich seine Brust anfühlte wie rohes Hackfleisch mit eingestreuten Reißnägeln. Er war wund, alles tat weh.
Als er sich neben ihr aufs Bett sinken ließ, fragte er sich, wie viel Zeit vergangen war. Er war zu schwach, um auf die Uhr auf dem Nachttisch zu sehen. Er konnte sich nicht einmal in einen Wolf verwandeln, wie er es geplant hatte. Und dann stürmten auch schon die Sanitäter ins Zimmer.
Dass die Tür krachend
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