Holst, Evelyn
anzufangen.“ Schwungvoll bremste sie den Rollstuhl vor einer großen Doppeltür, so schwungvoll, dass er fast vornüber gekippt wäre. „Wir sind da“, rief sie und stieß die Tür auf. „Jetzt geht’s auf die Matte.“
23. Kapitel
Leonie stand vor ihrem Kleiderschrank und war ratlos und aufgeregt. Was sollte sie bloß anziehen für ihren, ja, was war es eigentlich? Ein Kranken-, ein Freundschaftsbesuch oder ein Date? Sie hatte keine Ahnung. Sie war nur noch Gefühl. Das Kribbeln, das sie seit Hendriks Anruf gestern im ganzen Körper spürte, hatte nicht nachgelassen, im Gegenteil. Ich bin wie eine Brausetablette, die ständig vor sich hinsprudelt, dachte sie und musste unwillkürlich lachen. Was für ein kindischer Vergleich, aber irgendwie auch passend. Du bist verliebt, Leonie Baumgarten, und obwohl es der absolut falsche Mann ist, ist es das absolut richtige Gefühl. Das war wunderbar und schrecklich zugleich. Aber das wirst du ihm nicht sagen. Du wirst dich zusammenreißen und ihm die gute Freundin vorspielen. Alles andere wirst du dir verkneifen. Und deshalb ziehst du jetzt deine soliden Jeans an und ein jungfräulich weißes T-Shirt.
Doch dann stand sie noch immer nackt und ratlos vor dem Spiegel, als es an der Haustür klingelte. Schnell schlüpfte sie in ihren Bademantel und öffnete. „Jetzt schon ins Bett?“, fragte Marius, während Malte bereits in Lunas Kinderzimmer verschwunden war, und musterte sie belustigt. „Warum brauchst du überhaupt einen Babysitter?“ Sie wusste nicht, ob es schlau war, ihm die Wahrheit zu sagen, aber dann entschloss sie sich doch dafür. Das Leben ist zu kurz für Lügen, sagte ihre Mutter gern und ausnahmsweise hatte sie mal recht. „Ich fahr noch mal in die Rehaklinik“, sie sagte es betont beiläufig, aber natürlich fiel er nicht darauf herein. „Du besuchst ihn?“, seine Stimme war laut geworden, sie hörte, dass er sich ärgerte. „Ich weiß nicht, wen du mit ihn meinst“, fing sie an, er unterbrach sie sofort: „Klar weißt du das, halt mich bitte nicht für blöd.“ Aus dem Kinderzimmer drangen die fröhlichen Stimmen von Malte und Luna und wieder dachte sie, wie einfach es doch wäre, wenn ihre Gefühle anders und sie eine glückliche, kleine Familie werden könnten. „Du hast recht“, meinte sie versöhnlich und ein bisschen schuldbewusst. „Er hat mich angerufen.“ „Er ist verheiratet“, sagte Marius streng. „Und er ist ...“
Leonie seufzte: „Ich weiß das doch alles“, sie stand wieder vor ihrem Kleiderschrank und ließ den Bademantel fallen und er stand hinter ihr, betrachtete ihren langen, geraden Rücken und begehrte sie mit einer so schmerzlichen Sehnsucht, dass er unwillkürlich einen Schritt zurücktrat, um sie nicht in seine Arme zu reißen und sich damit zum lächerlichen Trottel zu machen. „Du weißt alles und trotzdem fährst du ...“ Sie drehte sich um, während sie in ein langes, enges Strickkleid schlüpfte, ein Geschenk, das sie sich zum 25. Geburtstag gemacht und seitdem nie getragen hatte. „Ja, Marius. Trotzdem fahre ich. Ich kann nicht anders.“
„Dann fahr jetzt“, er wandte sich ab und ging ins Kinderzimmer. Er war wütend und traurig und wollte sie nicht mehr sehen. Ihr Kleid hatte ihm den Rest gegeben. Es war sexy, eine Einladung zur Sünde. Es war ein Liebeskleid. Er hatte es noch nie an ihr gesehen. Für ihn hatte sie es noch nie getragen. Für den anderen trug sie es.
„Bist du sauer, Marius?“, sie hielt den Schlüssel in der Hand und sah ihn bittend an: „Bitte sei nicht sauer. Du bist doch mein bester Freund.“ Freund, dachte er und schmeckte dem Wort nach. Freund. Es schmeckte bitter, dieses Wort. „Viel Spaß“, das Lächeln gelang ihm so gut, dass sie erleichtert zurück lächelte. „Danke“, sie machte einen schnellen Schritt auf ihn zu und küsste ihn leicht auf die Wange. Ihre Haut, so nah und doch so unendlich weit weg, verströmte einen leichten Geruch nach Zimt und Moschus. „Tschüß, ihr Monster“, sie winkte den Kindern zu, er spürte ihre Ungeduld und Vorfreude, sie wollte jetzt gehen und er hielt sie nicht zurück. „Wann kommst du wieder?“, fragte er im Türrahmen stehend. „Soll ich hier übernachten?“
„Wenn es dir nichts ausmacht“, erwiderte sie. „Du weißt ja, wo die Couch ist.“
„Das weiß ich“, sagte er und schlug die Wohnungstür zu, etwas heftiger als nötig. Dann drehte er sich um und ging ins Kinderzimmer: „Wer von euch zwei Monstern hat
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