Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5

Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5

Titel: Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred
Vom Netzwerk:
sollen. Es wäre nett gewesen, die alten Jagdgründe aufzusuchen,
    jetzt, im Frühling. Seit Stäles Verschwinden war sein Leben doch ein bißchen
    trüb. Vielleicht war der Buchenwald schon grün. Obwohl das eigentlich immer
    erst um den 17. Mai geschah. Er beschloß, einen Ausflug zu machen.
    174
    »O ja, das werde ich«, sagte Karisen und goß sich ein Schnäpschen ein.
    Es war immerhin Ostern, und als er sich das überlegt hatte, goß er noch einen
    Schluck hinterher.
    10
    Die Frau im Bett konnte kaum mehr als vierzig Kilo wiegen. Ihre Hände waren
    mager, und Evald Bromo ärgerte sich schrecklich darüber, daß ihre Nägel
    schon wieder zu lang waren. Er streichelte den rauhen Handrücken und redete
    auf seine schlafende Mutter ein.
    Immerhin hatte sie ein Einzelzimmer.
    Als sie endlich diesen Platz im Pflegeheim bekommen hatte, war sie für die
    Welt bereits verloren gewesen. Sie erkannte ihn nie, aber sie hatte noch Kraft
    genug, um ihn dauernd mit anderen zu verwechseln. Im einen Moment flirtete
    sie auf einschmeichelnde Weise mit ihm und nannte ihn Peder, was
    vermutlich eine Flamme aus wirklich alten Tagen gewesen war. Im nächsten
    Moment schimpfte sie ihn aus und schlug mit dem Strickzeug nach ihm. Dann
    hielt sie ihn für seinen Vater. Während der letzten beiden Jahre hatte sie kaum
    noch ein Wort gesagt. Meistens schlief sie, und Evald wußte im Grunde nicht,
    ob seine Besuche ihr überhaupt etwas bedeuteten. Er blieb nie lange, wurde
    aber trotzdem nervös, wenn er seinen Besuch einen Tag lang hatte ausfallen
    lassen.
    Obwohl das Personal schlampte, was die Körperhygiene seiner Mutter anging
    — sie roch streng nach alter Frau, und ihre Nägel wurden viel zu selten
    geschnitten -, war das Zimmer sauber und ordentlich. Evald hatte selbst die
    Gegenstände ausgewählt, die sie aus ihrer Wohnung in der Alt-
    175
    Stadt mitgenommen hatte. Ein Büfett, das die Mutter für einen Lotteriegewinn
    gekauft hatte, nahm den meisten Platz ein. Der Sessel, in dem er saß, war so
    alt, daß er sich nicht an eine Zeit ohne ihn erinnern konnte. Er war mehrmals
    neu bezogen worden, und unter den Sitz hatte er einmal, als er krank war und
    nicht in die Schule gehen mußte, während seine Mutter bei der Arbeit war,
    seine Initialen eingeschnitzt. In der Ecke beim Fenster stand eine kleine
    Truhe, die in Rosenmustern bemalt war. Es war eigentlich eher eine große
    Kiste, und der Vorname seiner Mutter war in eleganter bauernblauer Schrift
    auf dem Deckel zu lesen.
    Evald hockte sich vor die Truhe. Er ließ die Hand über den abgenutzten Deckel
    fahren; sein Zeigefinger folgte den Buchstaben im Namen seiner Mutter. Er
    verharrte beim A in Olga und ließ den Finger zurücklaufen. Dann schob er den
    Schlüssel ins Schloß, diesen schwarzen, handgeschmiedeten Schlüssel, der in
    der kleinsten Büfettschublade lag, unter einer Schachtel mit vier Silberlöffeln.
    Das Schloß klemmte, aber mit leichter Gewalt ließ sich der Riegel in der
    schlichten Mechanik doch überreden. Evald klappte den Deckel hoch.
    Er wußte nicht, was seine Mutter in ihrer Truhe aufbewahrte. Sie zu öffnen
    war so unvorstellbar gewesen, wie fremde Briefe zu lesen. Selbst jetzt, wo die
    Mutter schon im zweiten Jahr ohne andere Lebenszeichen dalag, als ihr
    hartnäckiges Herz ihr aufzwang, fühlte er sich unbehaglich, als er die Sachen
    seiner Mutter durchwühlte. Er ertappte sich dabei, daß er über die Schulter
    zurückschielte, als rechne er damit, daß die alte Frau sich plötzlich im Bett
    aufrichten und den Sohn für seine Einmischung in Dinge, die ihn wirklich
    nichts angingen, zusammenstauchen werde.
    Oben lag Evald Bromos Zeugnis aus der Volksschule. Er öffnete es nicht,
    sondern legte es auf die Fensterbank. Dar
    175
    unter lag eine kleine rosa Schachtel, mit verschlissenem Deckel, die mit
    Bindfaden umwickelt war. Er band den Faden auf und öffnete die Schachtel.
    Er hatte nicht einmal gewußt, daß seine Mutter sie aufbewahrt hatte. Als er in
    dem Sommer, in dem er dreizehn geworden war, seinen ersten Lohn erhalten
    hatte, nach zwei Monaten Zeitungsaustragen bei Regen und Nebel, hatte er für
    das ganze Geld eine Kamee gekauft. Evald betastete die Brosche und schloß
    die Augen. Der leichte Geruch von Lavendel und Schweiß kroch aus seiner
    Erinnerung hervor. Seine Mutter hatte damals vor vielen Jahren das Geschenk
    geöffnet und den Schmuck angestarrt, dann hatte sie mit den Augen
    gezwinkert und ihn umarmt.
    In der Schachtel lagen Locken

Weitere Kostenlose Bücher