Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
sollen. Es wäre nett gewesen, die alten Jagdgründe aufzusuchen,
jetzt, im Frühling. Seit Stäles Verschwinden war sein Leben doch ein bißchen
trüb. Vielleicht war der Buchenwald schon grün. Obwohl das eigentlich immer
erst um den 17. Mai geschah. Er beschloß, einen Ausflug zu machen.
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»O ja, das werde ich«, sagte Karisen und goß sich ein Schnäpschen ein.
Es war immerhin Ostern, und als er sich das überlegt hatte, goß er noch einen
Schluck hinterher.
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Die Frau im Bett konnte kaum mehr als vierzig Kilo wiegen. Ihre Hände waren
mager, und Evald Bromo ärgerte sich schrecklich darüber, daß ihre Nägel
schon wieder zu lang waren. Er streichelte den rauhen Handrücken und redete
auf seine schlafende Mutter ein.
Immerhin hatte sie ein Einzelzimmer.
Als sie endlich diesen Platz im Pflegeheim bekommen hatte, war sie für die
Welt bereits verloren gewesen. Sie erkannte ihn nie, aber sie hatte noch Kraft
genug, um ihn dauernd mit anderen zu verwechseln. Im einen Moment flirtete
sie auf einschmeichelnde Weise mit ihm und nannte ihn Peder, was
vermutlich eine Flamme aus wirklich alten Tagen gewesen war. Im nächsten
Moment schimpfte sie ihn aus und schlug mit dem Strickzeug nach ihm. Dann
hielt sie ihn für seinen Vater. Während der letzten beiden Jahre hatte sie kaum
noch ein Wort gesagt. Meistens schlief sie, und Evald wußte im Grunde nicht,
ob seine Besuche ihr überhaupt etwas bedeuteten. Er blieb nie lange, wurde
aber trotzdem nervös, wenn er seinen Besuch einen Tag lang hatte ausfallen
lassen.
Obwohl das Personal schlampte, was die Körperhygiene seiner Mutter anging
— sie roch streng nach alter Frau, und ihre Nägel wurden viel zu selten
geschnitten -, war das Zimmer sauber und ordentlich. Evald hatte selbst die
Gegenstände ausgewählt, die sie aus ihrer Wohnung in der Alt-
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Stadt mitgenommen hatte. Ein Büfett, das die Mutter für einen Lotteriegewinn
gekauft hatte, nahm den meisten Platz ein. Der Sessel, in dem er saß, war so
alt, daß er sich nicht an eine Zeit ohne ihn erinnern konnte. Er war mehrmals
neu bezogen worden, und unter den Sitz hatte er einmal, als er krank war und
nicht in die Schule gehen mußte, während seine Mutter bei der Arbeit war,
seine Initialen eingeschnitzt. In der Ecke beim Fenster stand eine kleine
Truhe, die in Rosenmustern bemalt war. Es war eigentlich eher eine große
Kiste, und der Vorname seiner Mutter war in eleganter bauernblauer Schrift
auf dem Deckel zu lesen.
Evald hockte sich vor die Truhe. Er ließ die Hand über den abgenutzten Deckel
fahren; sein Zeigefinger folgte den Buchstaben im Namen seiner Mutter. Er
verharrte beim A in Olga und ließ den Finger zurücklaufen. Dann schob er den
Schlüssel ins Schloß, diesen schwarzen, handgeschmiedeten Schlüssel, der in
der kleinsten Büfettschublade lag, unter einer Schachtel mit vier Silberlöffeln.
Das Schloß klemmte, aber mit leichter Gewalt ließ sich der Riegel in der
schlichten Mechanik doch überreden. Evald klappte den Deckel hoch.
Er wußte nicht, was seine Mutter in ihrer Truhe aufbewahrte. Sie zu öffnen
war so unvorstellbar gewesen, wie fremde Briefe zu lesen. Selbst jetzt, wo die
Mutter schon im zweiten Jahr ohne andere Lebenszeichen dalag, als ihr
hartnäckiges Herz ihr aufzwang, fühlte er sich unbehaglich, als er die Sachen
seiner Mutter durchwühlte. Er ertappte sich dabei, daß er über die Schulter
zurückschielte, als rechne er damit, daß die alte Frau sich plötzlich im Bett
aufrichten und den Sohn für seine Einmischung in Dinge, die ihn wirklich
nichts angingen, zusammenstauchen werde.
Oben lag Evald Bromos Zeugnis aus der Volksschule. Er öffnete es nicht,
sondern legte es auf die Fensterbank. Dar
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unter lag eine kleine rosa Schachtel, mit verschlissenem Deckel, die mit
Bindfaden umwickelt war. Er band den Faden auf und öffnete die Schachtel.
Er hatte nicht einmal gewußt, daß seine Mutter sie aufbewahrt hatte. Als er in
dem Sommer, in dem er dreizehn geworden war, seinen ersten Lohn erhalten
hatte, nach zwei Monaten Zeitungsaustragen bei Regen und Nebel, hatte er für
das ganze Geld eine Kamee gekauft. Evald betastete die Brosche und schloß
die Augen. Der leichte Geruch von Lavendel und Schweiß kroch aus seiner
Erinnerung hervor. Seine Mutter hatte damals vor vielen Jahren das Geschenk
geöffnet und den Schmuck angestarrt, dann hatte sie mit den Augen
gezwinkert und ihn umarmt.
In der Schachtel lagen Locken
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