Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
einfach aus dem Haus geschafft werden
sollte. Das einzig Positive an Hannes zehn Monate langer Karriere bei dieser
Gruppe war das Sommerlager Knattholmen gewesen, an dem auch Jungen
teilgenommen hatten. Sie erinnerte sich an einen endlosen Sommer mit Baden
bei Sonne und Regen und brutalen Fußballspielen. Hanne war außerdem
Baumeisterin eines monumentalen Hauses von zwanzig Quadratmetern in der
größten Eiche der Insel gewesen. Sie bog ab.
Sie wollte wissen, ob das Haus noch existierte.
Der Frühling wehte ihr entgegen, und sie schob das Visier hoch, um ihr
Gesicht in den Wind zu halten. Es roch nach Dünger und Verwesung, nach
Wachstum und Kulturlandschaft. Nieselregen hing in der Luft, aber noch so
schwach, daß er beim Fahren nicht störte.
Nach zehn Minuten endete die kurvenreiche Landstraße auf einem Parkplatz.
Ein Schild wünschte »Willkommen auf Natholmen«, wo das Sommerlager
Knattholmen lag. Hanne ließ vorsichtig das Motorrad auf den schmalen Weg
gleiten, an dessen Ende eine Brücke auf die Insel führte. Ein Briefkastengestell stand steif und gebrechlich vor ihr, die Briefkästen waren vollgestopft mit
winterlicher Reklame, die sich während der Abwesenheit der
Ferienhausbesitzer angesammelt hatte. Nur drei Kästen waren leer, offenbar
gehörten sie Seßhaften. Hanne blieb für einen Moment stehen, als sie ein
einzelnes rotes Licht sah, das ein aus der Gegenrichtung kommendes Auto
anzeigte.
Ihre Augen wanderten zu einem der leeren Kästen.
EIVIND TORSVIK.
Der Name kam ihr bekannt vor. Sie stellte beide Füße auf
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den Boden und reckte den Rücken. Dann fiel es ihr ein. Billy T.s Bericht über
den ohrenlosen Jungen, den alle im Stich gelassen hatten. Den Schriftsteller.
Den Mörder.
Als ein uralter Pritschenwagen langsam den Hang hochkam, riß Hanne sich
den Helm vom Kopf und gab dem Fahrer ein Zeichen. Er hielt an und kurbelte
das Fenster hinunter.
»Kennen Sie sich hier aus?« fragte Hanne.
»Ich wohne da draußen«, sagte der Mann, schmunzelte und zeigte mit dem
Daumen nach hinten. »Und zwar seit dreißig Jahren. Ob ich mich auskenne. . .
doch, das kann man sicher so sagen.«
»Eivind Torsvik«, sagte Hanne und zeigte auf den Briefkasten. »Wissen Sie,
wo der wohnt?«
Der Mann lachte, ein heiseres, bellendes Lachen, und schnippte eine nasse
Kippe aus dem Fenster.
»Torsvikja. Komischer Kauz. Mörder, wissen sie. Wußten Sie das?«
Hanne nickte, ein wenig ungeduldig.
»Aber er könnte keiner Fliege etwas zuleide tun, wissen Sie. Ich treff ihn
manchmal, wenn er angeln geht. Lächelt und grüßt und ist immer freundlich.
Sagt nicht viel, ist sonst aber in Ordnung. Wohnt gleich hier unten. Fahren Sie
hinter der Brücke nach links und dann immer weiter geradeaus. Er wohnt im
letzten Haus. Es ist weiß. Ganz hinten.«
»Danke«, sagte Hanne und hängte den Helm an den Lenker. »Schönen Tag
noch.«
Der Fahrer tippte seine Mütze an und fuhr weiter.
Sie hatte eigentlich nicht vor, mit Eivind Torsvik zu reden. Strenggenommen
hatte sie das absolut nicht vor. Trotzdem fuhr sie vorsichtig den Hang
hinunter, huckelte über einen vernachlässigten Uferweg und entdeckte endlich
fünfzehn bis zwanzig Meter weiter ein weißes Haus. Ein rotweißblauer Wimpel
hing schlaff und feucht und mit aus
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gefranstem Ende an einem einige Meter vor der Südwand aufragenden
Fahnenmast. Das Haus war phantastisch gelegen, auf einer Felskuppe, nur
wenige Meter vom Meer entfernt und mit freiem Blick nach Süden.
Hanne stellte das Motorrad ab, öffnete den Reißverschluß des Anzugs bis zu
ihrem Bauch und ging dann zögernd über einen Plattenweg auf das Haus zu.
Die Tür war geschlossen, und die einzigen Lebenszeichen stammten von den
Möwen, die über dem Dach schrien. Die Wimpelschnur schlug im leichten
Wind müde und traurig gegen den Fahnenmast. Hanne ging zur Tür. Sie sah
keine Klingel, deshalb klopfte sie an.
Sie hörte nichts. Sie klopfte noch einmal.
Als sie sich schon umdrehen und gehen wollte - der Abend rückte näher, und
sie hatte Cecilie schon viel zu lange allein gelassen, und was wollte sie
überhaupt hier? —, wurde die Tür geöffnet.
Der Mann, der sie anstarrte, sah eher aus wie ein Junge. Er war schmächtig
und glattrasiert, er trug T-Shirt, Jeans und ein Paar grobe Sandalen. Seine
Haare waren schütter und lockig, und obwohl Hanne darauf vorbereitet
gewesen war, starrte sie doch einen Punkt an, wo eigentlich sein linkes Ohr
hätte
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