Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
hochsteigen.
»Die meisten Verbrechen dieser Art werden jedoch von Leuten ausgeführt, die
das Kind kennen. Und zwar mehr oder weniger gut. Von Pfadfinderleitern
über Pfaffen bis zu Onkeln, Brüdern und Vätern. Und dann ist es schwerer für
uns, das herauszufinden.«
Er lächelte bitter und machte einen Lungenzug. Dann hielt er Ausschau nach
einem Aschenbecher.
»Hier. Nimm die.« Hanne schob ihm eine halbvolle Coladose hin.
»Je näher der Täter dem Kind steht, desto stärker wird die absurde Loyalität
des Kindes. Manche bezeichnen diese Loyalität als Liebe. Möglicherweise
haben sie recht. Wir wissen alle, daß wir Menschen sogar dann lieben können,
wenn sie uns verletzen. Trotzdem möchte ich behaupten, daß hier in erster
Linie von anderen Bindungen die Rede ist, von Loyalität und nicht zuletzt von
Abhängigkeit. Du darfst nicht vergessen, daß zum Beispiel ein Vater fast unbe-
grenzte Einflußmöglichkeiten auf die eigenen Kinder hat.
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Wir hatten schon Fälle, wo das Kind hartnäckig beteuerte, ihm sei gar nichts
geschehen, nachdem der Täter schon zusammengebrochen war und gestanden
hatte. Es kommt soviel dabei zusammen. Schuldgefühle. Angst. Und vielleicht
eine Art Liebe. Komplizierte Sache. Ich kann dir Bücher leihen, wenn du
willst.«
Hanne hob abwehrend die Hand.
»Keine Zeit«, sagte sie. »Im Moment jedenfalls nicht.«
Der Regen war stärker geworden. Schwere Tropfen trommelten gegen die
Fensterscheiben, und Hanne knipste die Architektenlampe am Tischende an.
»Aber du hast mich wohl kaum kommen lassen, damit ich dir einen Vortrag
über etwas halte, das dir schon bekannt ist«, sagte Iver Feirand. »Was willst
du eigentlich?«
»Zwei Dinge.«
Hanne ließ eine halbgerauchte Zigarette in die Coladose fallen. Die Zigarette
fauchte wütend auf, und Hanne legte die Hand auf die Dose, um den
übelriechenden Rauch einzusperren.
»Erstens: Ist es auffällig, daß du nie etwas über Evald Bromo gehört hast? Ich
meine, ihr sitzt doch auch auf allerlei Informationen von Gewährsleuten.«
»Tja. Ja und nein. Ich weiß nicht. Eigentlich ist es kein Wunder. Aber wenn
ich etwas mehr wüßte als das, was du mir hier erzählt hast, dann könnte ich
deine Frage leichter beantworten. Ich muß mehr über sein Vorgehen wissen.«
Hanne dachte nach. Dann sagte sie: »Vergiß es. Als zweites wollte ich dich
fragen, ob du wohl Thea mit richterlicher Vollmacht vernehmen würdest. Sie
ist auf jeden Fall eine harte Nuß, und du bist der Beste.«
Iver Feirand lachte laut.
»Danke für dein Vertrauen, aber ist dieses Mädchen nicht schon fünfzehn oder
sechzehn?«
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»Sechzehn.«
»Bestens. Die Polizei kann sie also ganz normal als Zeugin vorladen. Dann
braucht sie einen Vormund und diesen ganzen Kram. Der wird vom
Jugendamt bestimmt, wenn Mama tot ist und Papa hinter Gittern sitzt.
Natürlich tu ich dir gern den Gefallen, aber eine Vollmacht brauchen wir
nicht.«
Billy T. klopfte an und kam herein, ohne auf Antwort zu warten.
»Sorry«, murmelte er, als er Feirand sah.
»Schon gut«, sagte Feirand und schaute auf seine Armbanduhr. »Ich muß
ohnehin los. Hör mal...«
Er ging auf die Tür zu und drehte sich zu Hanne um, als Billy T. sich auf den
freigewordenen Stuhl fallenließ.
»Ruf einfach an, wenn du Fragen hast. Wenn ihr die Spur verfolgen wollt, von
der wir gesprochen haben, brauchst du einen verdammt guten Plan. Können
wir nicht eine formellere Besprechung abhalten, du, ich und Leute von der
Ermittlungsleitung?«
»Schön«, Hanne lächelte und gähnte laut. »Ich melde mich.«
»Hab den Kerl noch nie leiden können«, murmelte Billy T. und nahm sich eine
Schokobanane aus der Emailleschale. »Igitt. Alt!«
Er spuckte sich in die Hand und starrte die braungelbe Soße an.
»Hab in letzter Zeit wirklich anderes zu tun, als Süßigkeiten einzukaufen«,
sagte Hanne. »Und es gibt nur einen Grund, aus dem du Iver nicht leiden
kannst. Er sieht besser aus als du. Und größer ist er auch.«
»Ist er nicht. Er ist zwei Meter groß. Und ich zweinullzwei. Auf Socken.«
»Was willst du eigentlich?«
Billy T. wischte sich mit einer alten Zeitung die Hände
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ab. Dann rieb er sich mit den Fingerknöcheln den Kopf und prustete wie ein
Pferd.
»Ich habe einen Vorschlag«, sagte er schließlich. »Du bist zum Umfallen
müde. Ich auch. Jenny hat die ganze Nacht geschrien. Tone-Marit mußte ins
Bett, sie hat sich die Nacht davor um sie gekümmert. Ich
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