Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
Gurgeln war noch zu hören, dann atmete sie nicht mehr. Der
Pfleger ließ noch minutenlang den Zeigefinger an der Innenseite ihres
schmalen alten Handgelenks liegen.
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Hanne Wilhelmsen konnte nicht klar sehen. Eine Haut schien sich über ihre
Augen gezogen zu haben; immer wieder kniff sie die Lider zusammen, um sich
von etwas zu befreien, das ihr wie eine zähe graue Masse vorkam, die an ihrer
Hornhaut klebte und das Sehen erschwerte. Bei jedem Atemzug empfand sie
einen Stich der Angst. Sie atmete in kurzen, flachen Zügen.
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»Tut mir leid«, sagte sie zu Iver Feirand und spielte an ihrer
Zigarettenpackung herum, ohne sich daraus zu bedienen. »Ich glaube, ich
brauche vielleicht eine Brille.«
»Bestimmt bist du nur müde. Ich weiß doch, wie das ist.«
»Sind wir eigentlich jemals unmüde?«
»Unmüde?«
Hanne Wilhelmsen hob Daumen und Zeigefinger zu ihrer Augenhöhle und
rieb sie energisch.
»Ich glaube, ich bin schon seit zwanzig Jahren müde«, sagte sie leise. »Je
mehr ich arbeite, um so mehr habe ich zu tun. Je mehr ich arbeite, um so
weniger...«
Plötzlich richtete sie sich auf und warf die halbvolle Packung Marlboro light in den Papierkorb.
»Damit muß ich auf jeden Fall aufhören.«
»Gescheit. Sollte ich dir nachmachen.«
»Du siehst auch ziemlich fertig aus.«
Iver Feirand lächelte schwach und nahm sich eine Zigarette aus seiner eigenen
Packung.
»Wenn du glaubst, ihr hättet viel zu tun, dann solltest du dir mal mein Büro
ansehen. Ich mußte meine Familie allein in die Osterferien fahren lassen, weil
ich nicht loskam. Alles türmt sich auf. Alles ist schwieriger geworden. Der
ganze Apparat scheint feiger geworden zu sein. Richter, Ärzte,
Kindergartenpersonal... Die Bjugn-Affäre war eine Katastrophe. Danach sind
erstmals deutlich weniger Anzeigen erstattet worden. Das war wohl nicht
anders zu erwarten. Und die Lage hat sich inzwischen ja auch wieder geändert.
Aber schlimmer ist...«
Er schnitt eine Grimasse und drückte die halbgerauchte Zigarette aus.
»Ich muß auch aufhören. Und es schmeckt ja nicht mal. Thea wird eine harte
Nuß. Ich habe schon einiges an Material gesammelt. Aus der Schule und...«
Iver Feirands Stimme rückte immer weiter weg und kam
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Hanne zusehends dünner und monotoner vor. Am Ende konnte sie die
einzelnen Wörter kaum noch voneinander unterscheiden. Sein Gesicht wurde
undeutlich; ein schimmernder Fleck vor farblosem Hintergrund. Sie
versuchte, tiefer zu atmen, aber bei jedem Atemzug krampfte ihr Zwerchfell
sich zusammen. Cecilie, dachte sie. Cecilie, Cecilie.
Am liebsten wäre sie aus dem Bett aufgestanden und verschwunden. Hätte
Billy T. dort liegenlassen und wäre gegangen. Für immer. Wollte alles sausen
lassen. Ihren Job vergessen. Sigurd Halvorsrud und Evald Bromo, Billy T. und
den aufdringlichen Polizeipräsidenten, der mehr begriff, als ihr lieb war, das
ganze Grondlandsleiret 44 mit allen Menschen dort sollte aus ihrer
Erinnerung verschwinden, ausgetilgt werden. Sie wollte nie mehr an Cecilie
und ihre Krankheit denken müssen. Sie könnte nach Rio gehen und mit
Straßenkindern zusammenwohnen. Vergessen, wer und was sie war.
Noch nie hatte sie ein so starkes Verlangen nach Flucht verspürt.
Als ihr Leben ihr im Laufe der Jahre immer schwerer vorgekommen war, hatte
sie sich in sich selbst versteckt. Und hatte dort ihre Stärke hergeholt, schon
seit einer stillen Nacht, in der sie mit elf Jahren auf dem Dach der alten Villa gelegen hatte, während alle anderen schliefen. Das spürte sie jetzt; sie spürte, wie sich die Dachziegel in ihre Schultern bohrten, sie fühlte den kalten Duft
des Septemberabends und der schweren Bäume, sie sah vor sich das
Himmelsgewölbe, mit Myriaden von Sternen, die ihr sagten, wie stark sie sei,
wenn sie nur allein war. Wenn niemand wirklich wußte, was sie tat oder
dachte.
Hanne Wilhelmsen war auf diese Weise lange zurechtgekommen. Der Anfang,
der ihr Cecilie geschenkt und sie ihre Familie und ihre Kindheit vergessen ließ, war so einfach ge
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wesen. Sie waren so jung. Sie fühlte sich so stark. Ihr Schutzwall, die Grenzen, die die anderen aussperrten und sie selbst dort festhielten, wo sie zu Hause
war, waren so deutlich. Als ihr aufging, daß ihre Lebensweise, verschlossen
und immer korrekt, tüchtig und hart arbeitend, den anderen Respekt
abnötigte, wußte sie, daß sie die richtige Wahl getroffen hatte. So hatte sie es immer gewollt.
Cecilie war die erste
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