Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
»Ich bin übermüdet.«
Billy T. ließ sich neben sie aufs Sofa fallen. Schuberts Unvollendete hatte einen dramatischen Wendepunkt erreicht, und er drehte es mit der Fernbedienung
wieder lauter und legte Hanne den Arm um die Schultern.
»Hör jetzt zu«, flüsterte er. »Hör gerade jetzt zu.«
Sie entspannte sich. Billy T. roch leicht nach Mann und gekochtem Kohl. Die
Wollfasern seines Pullovers kratzten ihre Wange. Er saß ganz still da, hatte
den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Sein Arm lag an-
genehm schwer auf ihr. Behutsam streichelte sie seine Hand. Die war groß und
warm und ruhte ganz bewegungslos nur wenige Zentimeter von ihrer rechten
Brust entfernt. Sie ließ zwei Finger über die Adern wandern, die sich auf
seinem Handrücken abzeichneten. Als sie aufschaute, lächelte er. Sie musterte
die vertrauten Züge, die
216
große, gerade Nase, die blaßblauen Augen, die in diesem Moment grau und
tiefer wirkten, als sie sie je gesehen hatte, die Lippen, die er mit der Zunge
anfeuchtete, ehe er sehr ernst wurde, die freie Hand an ihre Wange legte und
sie lange, lange küßte.
26
Ein Mann schlug mit der Faust gegen die mit Fliesen bedeckte Wand.
»Scheiße. Scheiße. Scheiße.«
Das Wasser spülte glühendheiß über seinen Leib.
Er hätte nie damit gerechnet, daß jemand etwas über Evald Bromos Umgang
mit kleinen Mädchen erfahren würde. Bromo war der vorsichtigste
Vergewaltiger, mit dem der nackte Mann unter der Dusche je zu tun gehabt
hatte. Nur einmal hatte er sich fahrlässig verhalten. Das war viele Jahre her,
und sein Fehler hatte sich ausbügeln lassen.
»Shit. O verdammt!«
Er hätte heulen können. Statt dessen hämmerte er noch einmal gegen die
Wand.
Es gab nur eine Verbindung zwischen ihm selbst und Evald Bromo. Er war
sich hundertprozentig sicher gewesen, daß diese niemals entdeckt werden
könnte. Einhundertprozentig.
Jetzt wußte er nicht, was er tun sollte.
»Papa!« schrie eine Stimme vor der abgeschlossenen Tür. »Du verbrauchst ja
das ganze heiße Wasser. Jetzt bin ich an der Reihe. Papa!«
Wenn er gewußt hätte, daß jemand es wußte, hätte er alles anders gemacht.
217
27
Als Hanne am Donnerstagmorgen erwachte, begriff sie zuerst nicht, wo sie
war. Es war halbdunkel im Zimmer, und die stickige Luft roch unbehaglich.
Sie war zu Hause. Sie lag in ihrem eigenen Bett. Daß die Vorhänge sich nicht
bewegten, lag am geschlossenen Fenster. Sonst schliefen sie immer bei
offenem Fenster. Cecilie und Hanne.
Billy T. lag neben ihr auf dem Bauch. Er schlief noch immer tief, mit offenem
Mund und leichtem Schnarchen. Seine Decke war heruntergeglitten. Obwohl
der Sommer noch weit war, sah sie eine klare Grenze zwischen seinem weißen
Hintern und dem dunkleren Rücken.
Hanne hatte plötzlich Angst; ein physischer Schmerz überall im Körper. Billy
T. murmelte im Schlaf vor sich hin und drehte sich um.
Hanne versuchte, sich zu bewegen. Er drückte sie nicht länger nach unten.
Sein Gesicht war abgewandt. Sein Rücken berührte sie nur ganz leicht. Sie
hatte die Arme starr an ihrem nackten Leib ausgestreckt und konnte nicht
atmen.
An diesem Tag würde Cecilie nach Hause kommen.
28
Olga Bromo lag im Sterben.
Der Pfleger, der sie wusch, ertappte sich bei dem Gedanken, daß es vielleicht
das allerletzte Mal war. Der Zustand der alten Frau hatte sich in der Nacht
zum Sonntag plötzlich verschlechtert. Ihr Puls — der sie zuverlässig durch zwei
217
sinnlose Jahre nahe dem Koma getrieben hatte — war plötzlich unregelmäßig
und schwach geworden. Der Pfleger hatte gelesen, daß Olga Bromos Sohn fast
zur selben Zeit ermordet worden war. Seither hatte ihr Herz schon zweimal
ausgesetzt. Doch das Leben war dann zurückgekehrt, wie aus wütendem Trotz
angesichts der Erleichterung des Personals darüber, daß die senile,
zweiundachtzig Jahre alte Dame endlich erlöst werden sollte.
»Ihr habt einander so nahe gestanden«, sagte der Pfleger freundlich und mit
leiser Stimme, als er den Waschlappen auswrang. »Er hat dich ja fast jeden
Tag besucht. Nicht alle haben solches Glück.«
Olga Bromo trug ein weißes Flanellnachthemd mit hellroten Bändern am Hals.
Der Pfleger hatte sich die Mühe gemacht, ihr ein eigenes Kleidungsstück
anzuziehen, an Stelle des praktischen, geschlechtslosen Kittels, in den die
Kranken sonst gesteckt wurden.
Er hatte gerade die Schleife am Hals gebunden, als Olga Bromo starb. Nur ein
schwaches
Weitere Kostenlose Bücher