Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
seit der Geburt so angewöhnt, als sei die Existenz des Kindes der endgültige Beweis dafür, daß sie zusammengehörten.
Billy T. würde Tone-Marit nie erzählen, was passiert war, als er bei seiner be-
sten Freundin übernachtet hatte, um einem heulenden Säugling zu entgehen
und eine Nacht ungestört zu schlafen.
»Was denn sonst?« fragte er und ließ sich wieder auf den Stuhl sinken.
»Ich wollte noch mal in die Vogts gate 14«, sagte Sommaroy jovial und
versuchte, den Blick seines Kollegen einzufangen, während er auf seinem
Bienenstich herumkaute. »Die Telefongesellschaft hat bestätigt, daß Salvesen
zwei Anschlüsse hatte. Der eine war fürs Internet.«
»Internet«, wiederholte Billy T.
»Ja. Komisch. In der Wohnung war nicht die Spur von einem Computer zu
entdecken, und außerdem: Was zum
223
Henker wollte so ein Typ mit dem Internet? Also dachte ich, ich schau mir das
alles noch mal an, weißt du. Kommst du mit?«
Billy T. wollte nach Hause. Er hatte das Gefühl, nie mehr nach Hause
zurückkehren zu können.
Er wollte mit Hanne sprechen. Hanne wollte nicht mit ihm sprechen. Dreimal
hatte er an ihre Bürotür geklopft. Jedesmal hatte sie sich bei seinem Anblick
abgewandt. Sie hatte kein Wort gesagt, aber es war unmöglich gewesen, ihren
gehobenen Schultern und dem eiskalten Blick zu trotzen, mit dem sie ihn
bedachte, ehe sie sich umdrehte.
»Wann wolltest du denn los?« fragte er müde.
»So gegen vier. Vorher kann ich nicht. Du kommst mit?«
»Wir treffen uns um vier in der Garage. Sorg du für ein Auto.«
Als Billy T. die Kantine verließ, sah er den Rücken von Hanne Wilhelmsen, die
den Fahrstuhl ansteuerte. Da sie nicht in der Kantine gewesen war, nahm er
an, daß sie eine Besprechung mit dem Polizeipräsidenten gehabt hatte, dessen
Büro im selben Stock lag. Billy T. blieb stehen, als sich die blanken Metalltüren schlossen. Dann trottete er die Treppen hinunter, so langsam, daß sie
verschwunden sein würde, wenn er im dritten Stock ankäme.
31
Sigurd Halvorsrud saß auf einer matratzenlosen Pritsche in einer Zelle im
Hinterhof des Polizeigebäudes und umklammerte seine Knie. Er bohrte die
Nägel durch den Jeansstoff und in seine Haut, bis seine Fingerspitzen taub
wurden. Für einen Moment ließ er los, um dann die Übung zu wiederholen.
223
»Unschuldig«, flüsterte er in die stickige, nach Schweiß stinkende Luft hinein.
»Ich bin unschuldig. Unschuldig. Ich bin unschuldig.«
Der Oberstaatsanwalt Sigurd Halvorsrud hatte niemanden getötet.
Seines Wissens hatte er nie etwas Schlimmeres verbrochen, als ab und zu eine
Geschwindigkeitsbegrenzung zu mißachten. Wenn ihm klares Denken hier
noch möglich gewesen wäre, dann wäre ihm sicher eingefallen, daß er einmal
eine Buße hatte zahlen müssen, weil er im kindischen Suff einem Kumpel eine
gesemmelt hatte; am 17. Mai in dem Jahr, in dem er sechzehn geworden war.
Doch Sigurd Halvorsruds Gehirn war heißgelaufen. Während seiner ersten
Untersuchungshaft, als diese ganzen Absurditäten noch so neu waren, daß er
seinen Scharfsinn einsetzen konnte, hatte er gehofft. Das hier war Norwegen.
In Norwegen wurden keine Unschuldigen verurteilt. Wenn es doch ein
seltenes Mal vorkam, dann ging es meist um Penner, Suffbrüder und
halbkriminelle Verlierer, die das Verbrechen, für das sie verurteilt wurden,
zwar nicht begangen hatten, die sich aber selbst dafür danken konnten, daß sie
überhaupt ins Suchlicht der Polizei geraten waren.
Sigurd Halvorsrud gehörte zu einem System, an das er glaubte; es war eine
traditionsbewußte, zivilisierte Rechtspflege, der er nicht nur sein Arbeitsleben geweiht hatte, sondern die zugleich mit seiner Persönlichkeit verflochten war,
seinem Ego, allem, was ihn ausmachte. Sein Glaube an sich selbst und an seine
eigene Kraft beruhte deshalb in hohem Grad auf dem Vertrauen zum System.
Während der ersten Wochen - als die gelben Wände ihn zu ersticken drohten
und er sich jeden Morgen mit dem Wachpersonal gestritten hatte, weil er
duschen wollte, wie er es gewohnt war, weil er Anzug und Schlips anziehen,
sich ordentlich die
224
Haare mit Haarwasser kämmen und sich einmal die Woche die Nägel
schneiden wollte, wie seine Gewohnheiten das vorschrieben — in dieser Zeit
hatte er trotz allem an sich und damit an das System geglaubt. Daß er des
Mordes an seiner Frau verdächtigt wurde, war einfach ein Versehen. Früher
oder später würde die Polizei die Wahrheit
Weitere Kostenlose Bücher